Der Migrationsdruck Richtung Europa wird in den kommenden Jahrzehnten anhalten.

Cartoon: Michael Murschetz

Nichts spaltet die Union heute tiefer als die Frage der Migration. Zwar beantragten 2017 um 43 Prozent weniger Menschen Asyl in der EU als im Jahr davor. Aber obwohl die Sporthallen und Kasernen, die nach 2015 als Flüchtlingsunterkünfte verwendet wurden, längst wieder ihrem ursprünglichen Zweck dienen, kann von Normalisierung nicht die Rede sein. Die Parlamentswahlen in Ungarn und Italien zeigten, dass das Migrationsthema unvermindert die europäische Politik dominiert. Die Grenzkontrollen an einer Reihe von Schengen-Binnengrenzen dauern an, und die Verhandlungen über die Reform des EU-Asylsystems kommen kaum voran.

Das bisherige Versagen der EU bei diesem Thema geht auf Fehler bei der Gründung des Schengen-Systems zurück. Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen verzichteten die teilnehmenden Länder auf die Kontrolle über Ein- und Ausreisen, also auf ein Kernelement der staatlichen Souveränität. Sie unterließen es aber, diesem staatsähnlichen Raum einen starken rechtlichen und institutionellen Rahmen zu geben, die äußeren Grenzen zu sichern und Migration und Asyl gemeinsam zu regeln.

Ebenso wie 2008 die Finanzkrise die Designfehler der Währungsunion aufzeigte, so offenbarte 2015 die Flüchtlingskrise die Brüchigkeit der Schengen-Konstruktion. Aber während es in der Finanzkrise gelang, die Währungsunion durch die Schaffung neuer Instrumente zu festigen, löste die Flüchtlingskrise eine umgekehrte – zentrifugale – Dynamik aus.

Dies liegt vor allem an der unterschiedlichen Emotionalität des Themas. Währungspolitik ist inhärent komplex und technisch. Die Finanzkrise erzeugte Angst, aber das Krisenmanagement war eine Sache für Technokraten. Ganz anders das Migrationsthema. Das geht unter die Haut, berührt Fragen der Identität, mobilisiert bei manchen Hilfsbereitschaft und bei anderen Furcht und Ablehnung. Die Flüchtlingskrise polarisierte die Gesellschaft und heizte den politischen Diskurs auf. Populisten, aber auch einige Politiker der Mitte und viele Medien profitieren vom Gefühl der Verunsicherung und haben jedes Interesse, die angespannte Stimmung aufrechtzuerhalten.

Migrationsdruck

Fremdenfeindlichkeit und EU-Skepsis gehen meist Hand in Hand. Nationalistisch denkende Politiker blockieren gemeinsame Entscheidungen in den EU-Institutionen und geben dann "Brüssel" die Schuld für die ungelösten Probleme. Manche Regierungen sind heute weniger als vor der Krise bereit, den nationalen Handlungsspielraum einzuschränken, um stärkere europäische Regelungen zu ermöglichen.

Der Migrationsdruck in Richtung Europa wird auch in den nächsten Jahrzehnten anhalten. Hohes Bevölkerungswachstum und Instabilität in den Nachbarregionen, die krasse Ungleichheit der Einkommen und der Klimawandel lassen daran keinen Zweifel aufkommen. Auch mit neuerlichen Flüchtlingsströmen muss immer wieder gerechnet werden.

Auf sich selbst gestellt werden die einzelnen Mitgliedstaaten keine Antwort darauf finden. Der gegenwärtige Trend, durch die Verschärfung der Asylbedingungen und die Verschlechterung der Sozialleistungen für Ausländer Neuankömmlinge vom eigenen Territorium abzuschrecken, wird zwangsläufig zu mehr Problemen mit der schon vorhandenen ausländischen Bevölkerung und damit wieder zu noch mehr Fremdenfeindlichkeit führen.

"Festung Europa"

Ebenso fragwürdig ist die Vorstellung, die EU könne sich durch Dichtmachen der Außengrenze quasi als "Festung Europa" vor neuen Flüchtlings- und Migrantenströmen schützen. Natürlich muss der Grenzschutz ausgebaut werden, aber angesichts der langen Seegrenze und der Dichte der Beziehungen zu den Nachbarstaaten wird er nie vollkommen sein. Auch das "australische Modell" – die Verbringung von Asylbewerbern in Lager in Drittstaaten – hat abgesehen von völkerrechtlichen und humanitären Bedenken schon deshalb wenig Aussicht auf Verwirklichung, da kaum ein Land bereit sein wird, diese undankbare Rolle zu übernehmen.

Als Irrweg hat sich aber auch die Initiative der Kommission erwiesen, in Europa gelandete Flüchtlinge obligatorisch auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Der Ansatz stieß auf den erbitterten Widerstand mitteleuropäischer Staaten, in denen andere Sensibilitäten gegenüber Flüchtlingen und Migranten bestehen als im globalisierten Westen des Kontinents. Instrumentalisiert von populistischen Politikern trug das Verteilungskonzept wesentlich zur EU-Ost-West-Spaltung bei.

Wenn all dies nicht sinnvoll ist, wo liegen dann mögliche Lösungen? Wesentliches Element einer erfolgreichen Strategie wäre eine umfassende Partnerschaft mit den Ursprungs- und Transitländern. Dies beinhaltet Hilfe vor Ort für vertriebene Menschen ebenso wie Investitionsprogramme für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das prioritäre Anliegen der EU – der Abschluss von Rücknahmeabkommen – wird leichter zu erreichen sein, wenn die EU die direkte Übernahme von besonders bedürftigen Flüchtlingen zusichert und zusätzliche legale Migrationswege eröffnet. Seit 2015 hat die EU im externen Migrationsmanagement einige Fortschritte erzielt, aber es bleibt viel zu tun.

Harmonisierung der Asylentscheidungen

Die Dublin-Regelung, die die Verantwortung für die Asylverfahren dem Land zuweist, in dem der Flüchtling EU-Territorium betritt, muss dringend durch Solidaritätsmechanismen ergänzt werden. Ein besserer Zugang als die zwangsweise quotenmäßige Verteilung wäre die Reservierung erheblicher Mittel aus den Strukturfonds für Mitgliedsländer, aber auch für Regionen und Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen und unterstützen. Dies würde die Situation in den belasteten Ländern erleichtern und sicherstellen, dass Solidaritätsverweigerung einen konkreten Preis hat.

Die Harmonisierung der Asylentscheidungen in den EU-Staaten ist ein weiteres wichtiges Anliegen. Wenn die Anerkennungsrate für Afghanen zwischen 2,5 und 70 Prozent schwankt, wird aus dem Schutzanspruch ein Lotteriespiel. Ähnliche arbiträre Unterschiede gibt es auch bei der Rückführung von Personen in ihre Heimatländer. Daher sollten die Kompetenzen des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) wesentlich ausgebaut werden. Längerfristig sollte daraus eine echte Asylagentur mit Entscheidungskompetenz werden, welche sicherstellt, dass dieselben Kriterien EU-weit umgesetzt werden.

Ähnliches gilt auch für die EU-Grenz- und -Küstenwache, die ebenfalls bisher nur unterstützende Funktionen hat. Auch hier wäre eine schrittweise Integration der nationalen Grenzschutzorganisationen in eine exekutive EU-Agentur sinnvoll, die eine einheitliche hohe Qualität der Grenzkontrolle an allen EU-See- und -Landgrenzen sicherstellen kann.

Es gibt kein Patentrezept für die Herausforderung der Migration, aber eine Reihe von Stellschrauben und Hebeln, die insgesamt eine nachhaltige Steuerung der Migration ermöglichen. Voraussetzung ist allerdings, dass der gegenwärtige Trend zum nationalen Egoismus gestoppt wird und die Mitgliedstaaten die Notwendigkeit gemeinsamer europäischer Lösungen erkennen. Andernfalls ist nicht nur die Zukunft Schengens, sondern auch die der EU in großer Gefahr. (Stefan Lehne, 1.6.2018)