Nabelschnurblut enthält Stammzellen. Private Firmen bieten an, es für einen eventuellen späteren Notfall aufzubewahren. Ist das ein Geschäft mit der Angst oder eine Versicherung für den Ernstfall?

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Der Fall erregte 2009 internationales Aufsehen. Er ist ein Beispiel für den Albtraum aller werdenden Eltern und des medizinischen Fortschritts zugleich, der sich für Werbezwecke eignet: Ein etwa zweieinhalbjähriger Bub sollte am Darm operiert werden. Es kommt zu Komplikationen, das Herz hört auf zu schlagen, 25 Minuten lang. Das Kind überlebt. Das Gehirn wurde durch den Sauerstoffmangel aber so schwer geschädigt, dass der bis dahin völlig normal entwickelte Bub nicht mehr auf seine Umwelt reagierte und spastische Lähmungen hat.

Die Eltern hatten bei der Geburt ihres Sohnes das Nabelschnurblut und die darin enthaltenen Stammzellen einlagern lassen. Arne Jensen von der Campus-Klinik Gynäkologie der Ruhr-Universität Bochum stellte einen Antrag an die Ethikkommission und führte schließlich eine sogenannte autologische Transfusion durch. Der Vorteil: Da Spender und Empfänger dieselbe Person waren, konnten Abstoßungsreaktionen ausgeschlossen werden. Das Ergebnis: Die spastischen Lähmungen reduzierten sich innerhalb von zwei Monaten deutlich, das Kind konnte wieder sehen, sitzen und einfache Wörter sprechen. 40 Monate nach der Behandlung schaffte es der Bub, selbstständig zu essen, mit Hilfe zu laufen und Vierwortsätze zu bilden. "Heute besucht der Junge eine klassische Grundschule", sagt Jensen.

Eine Erfolgsgeschichte, die auch von der privaten Stammzellbank Vita34 mit Unternehmenssitz in Leipzig regelmäßig präsentiert wird. Denn das Nabelschnurblut des Buben war in einem der Tanks des Unternehmens gelagert. Mittlerweile sind es rund 215.000 Präparate, die in sterilen Plastikbeuteln bei etwa minus 180 Grad Celsius in flüssigem Stickstoff aufbewahrt werden. Eines ist sicher: Das Geschäft mit der privaten Einlagerung von Stammzellen ist lukrativ. Ab etwa 2000 Euro können Eltern das Nabelschnurblut ihres Kindes bei Vita34 einfrieren lassen, plus einer Jahresgebühr von 48 Euro. Im Vorjahr lag der Umsatz der Aktiengesellschaft bei 19 Millionen Euro, bis zum Jahr 2021 will man zehn Millionen Euro Gewinn machen. Kritiker sprechen hingegen von überzogenen Heilsversprechen und einem Geschäft mit der Angst.

Zu wenige Studien

Eine gesunde Portion Skepsis ist jedenfalls angebracht. Denn die Funktionsweise des Verfahrens ist bislang noch nicht vollständig geklärt. Dass sich die gesunden Stammzellen aus Nabelschnurblut, die weitgehend frei von negativen Umwelteinflüssen sind, direkt in Gehirnzellen umwandeln, gilt als unwahrscheinlich. Forscher vermuten, dass die geschädigten Hirnnervenzellen bestimmte Eiweißstoffe freisetzen, von denen die Stammzellen aus dem Nabelschnurblut angezogen werden. Diese schütten anschließend Substanzen im Gehirn aus, die Entzündungsprozesse hemmen und die geschädigten Gehirnareale zur Regeneration anregen.

Das bislang größte Manko: Großangelegte, Placebo-kontrollierte Doppelblindstudien fehlen. Der Großteil der Forschung – vor allem in Europa – beschränkt sich auf Experimente mit Mäusen, Ratten und Affen. Selbst in den USA, wo Joanne Kurtzberg von der Duke University in North Carolina bereits seit 30 Jahren diese Therapie erforscht, sind die Ergebnisse überschaubar. Die Pionierin der perinatalen Stammzelltransplantation berichtet zwar immer wieder von erfolgreichen Heilversuchen, insgesamt brachten ihre klinischen Studien aber keine eindeutigen Resultate.

Das liegt vor allem daran, dass noch Fragen offen sind: So ist noch nicht geklärt, wie lange das kryokonservierte Nabelschnurblut funktionstüchtig gelagert werden kann. Auch der ideale Zeitpunkt der Therapie ist ungewiss, ebenso die notwendige Menge an Stammzellen, um einen Heilungsprozess in Gang zu setzen. Ein klares Ergebnis konnte Kurtzberg trotzdem kürzlich beim Stammzellkongress in Berlin präsentieren: Jene Kinder, die höhere Dosen von Nabelschnurblut erhalten haben, entwickelten sich deutlich besser als die Kontrollgruppen, denen Placebos oder nur geringe Mengen an Stammzellen verabreicht wurden.

Mehr Evidenz

"Wir brauchen mehr klinische Studien", betont auch Wolfgang Henrich, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin an der Charité Berlin. Das könnte sich demnächst ändern. Arne Jensen hat dieses Jahr die Bewilligung von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA für die Erforschung der Stammzellentherapie an Neugeborenen erhalten. In den nächsten zwei, drei Jahren soll in Kooperation mit Unikliniken aus Deutschland, der Schweiz und Österreich geprüft werden, ob die Methode taugt, offiziell anerkannt zu werden. "Das könnte die Basis für eine Stammzellenlagerung auf Krankenschein sein", sagt der Gynäkologe. Bis dahin müssen besorgte Eltern in die eigene Tasche greifen. (Günther Brandstetter, 2.6.2018)