Deutschland (links: Antonio Rüdiger) zählt bei der kommenden Weltmeisterschaft wie Brasilien (rechts: Gabriel Jesus) zu den Favoriten.

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"Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer laufen 90 Minuten einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen", sagte Gary Lineker einst. Dass Letzteres nicht stimmt, ist seit vergangenem Samstag auch hierzulande in das Bewusstsein zurückgekehrt. Und bezüglich dieses "Einfach"?

Ein Team um Daniel Memmert, Professor am Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Deutschen Sporthochschule Köln, entwickelte einen Algorithmus, der aus Millionen Datenpunkten sogenannte Key Performance Indicators (KPI) wie Raumkontrolle oder Pressingindex errechnet. Das ist Fußball im Jahr 2018.

Im vergangenen Jahrhundert spielten sich die großen Entwicklungen des Fußballs im taktischen Bereich ab: Konterspiel, Catenaccio, Total Voetbal. Diese Evolutionen fanden in Trainerköpfen und auf dem Feld statt, so waren sie allgegenwärtig. Die jüngste Revolution hat längst begonnen, diesmal ist sie unsichtbar: Daten verändern den Fußball.

Gipfel der Digitalisierung

Denn was Daniel Memmert in Köln erforscht, macht Fußballteams erfolgreicher – wenn es denn richtig umgesetzt wird. Die erwähnten KPIs sind zu solchen auserkoren worden, da sie nachweislich Erfolg versprechen – viel mehr als die graue Ballbesitzstatistik, ihr Urahn. Dank digitaler Spielerverfolgung kann das von Memmert gemeinsam mit dem Sportinformatiker Jürgen Perl gebaute Soccer-System mit riesigen Datenmengen arbeiten. Es kann verraten, welcher Linksverteidiger mit seinen Pässen die meisten Gegenspieler überspielt oder welcher offensive Mittelfeldspieler mit seinem Stellungsspiel am meisten Raum unter Kontrolle hat.

Das ist einer der Gipfel der Digitalisierung des Fußballs – ob es der höchste ist, lässt sich kaum sagen. Jeder Topklub hat eine Analyseabteilung; was dort passiert und noch ein Wettbewerbsvorteil ist, bleibt geheim. Auch bei Red Bull Salzburg, in Fortschrittsbelangen österreichweit meist führend, sind derartige Informationen rein intern.

Die Anfänge im ÖFB

Nationalverbände betrifft das Thema gleichermaßen, im Österreichischen Fußballbund (ÖFB) war Ex-Sportdirektor Willibald Ruttensteiner von 2001 bis 2017 Geburtshelfer. "Wir haben mit einer sehr einfachen, aus heutiger Sicht fast etwas dilettantischen Datenbank angefangen", erzählt Ruttensteiner.

Diese sei bald ersetzt und danach permanent weiterentwickelt worden: "Im technischen Bereich darf man keine zwei Jahre stehenbleiben." Der 55-Jährige berichtet von einem Prozess: "Analysesysteme sind anfangs belächelt worden, teilweise auch aus Hilflosigkeit, weil man den Computer nicht bedienen konnte. Andererseits haben immer mehr Trainer erkannt, welche Möglichkeiten sich durch diese Systeme ergeben." Und: "Vorteile nützt jeder Trainer."

Josef Hickersberger (links) habe Datenanalyse als erster ÖFB-Trainer angenommen, erzählt Ruttensteiner (Mitte).
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Beim ÖFB-Nationalteam sei der erste Freund der Datenanalyse Ex-Teamchef Josef Hickersberger gewesen. Nach der EM 2008 habe es mit Karel Brückner "einen Bruch gegeben", Didi Constantini habe das System genützt, "aber vom Gefühl her eher nicht die Analysedaten". Und Marcel Koller, der letzte Trainer unter Ruttensteiners Ägide? "Er war immer wahnsinnig interessiert." Auch die Trainer der Nachwuchsauswahlen hätten technische Fortschritte früh angenommen. "Das war ganz sicher ein Vorteil", betont Ruttensteiner. "So viele Qualifikationen wie Österreich machst du nicht, wenn du nicht besser arbeitest als andere."

Zurück in die Zukunft, zurück zu Daniel Memmert. "Der Algorithmus wird immer genauer, feiner – er kann neue Kategorien lernen, wie zum Beispiel Kreativität." Es ist die nächste Stufe der endlosen Leiter; nun wird nicht mehr nur gemessen, nach wie vielen Ballkontakten Lionel Messi mit welchem Fuß einen wie weiten Diagonalpass vorbei an wie vielen Gegnern spielt. Jetzt soll quantifiziert werden, wie originell das Ganze war.

Kreativität ist die Zukunft

Und eine Studie anhand sämtlicher Tore bei den Europa- und Weltmeisterschaften 2010, 2014 und 2016 zeigt: Kreative Teams haben Erfolg. Memmert ist freilich schon drei Schritte weiter, misst gemeinsam mit der Universität Graz die Hirnströme von Spielern in kreativen Momenten und forscht, wie man diese Fähigkeit trainieren kann. Denn das darf man nie vergessen: Es geht um den Vorteil.

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Kreativgenies wie Lionel Messi könnten in Zukunft noch wertvoller sein.
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Dieser wird in Zukunft primär in Kreativität und Taktik stecken, glaubt Memmert. "Meine Vision ist, dass sich die Fußballtaktik in neue Dimensionen entwickelt und dass Kreativität immer wichtiger wird. Wenn man immer mehr über die gegnerischen Mannschaften weiß, werden Spieler gefragt sein, die auf dem Feld originell sind", sagt er.

Auch wenn Memmerts Algorithmus die erfahrungsgemäß erfolgreichste Formation gegen ein bestimmtes Team berechnen kann: Die Technik wird den Trainer nicht ersetzen, sondern unterstützen. "Die Kunst ist, das Ganze zu interpretieren und für die technische, taktische, physische oder mentale Arbeit zu nutzen", sagt Ruttensteiner. "Es gibt ganz wenige, die diese Daten in die Fußballwelt bringen und die richtigen Konsequenzen daraus ziehen können."

Komplexe Details

Das ist die Herausforderung: komplexe, von einer Maschine ausgespuckte Details wie die perfekte Raumaufteilung in das in seiner Natur – 22 Menschen, ein Ball, wenige Regeln – so einfache Spiel zu gießen. Das ist freilich nichts Neues; Taktiklehre in trainierbare Prinzipien zu verpacken ist seit jeher Trainerhandwerk. Aber nun sind weitaus mehr Informationen und Schlüsse zu vermitteln.

Auch die Art der Vermittlung verändert sich dank des technischen Fortschritts, bei der kommenden Weltmeisterschaft dürfen Trainerteams erstmals technische Hilfsmittel wie Tablets nutzen und per Headset mit Kollegen auf der Tribüne kommunizieren. Der Titelverteidiger aus Deutschland nimmt das dankend an, der DFB kennt sich mit Digitalisierung aus.

Sportdirektor Oliver Bierhoff will die planmäßig 2020 fertiggestellte DFB-Akademie zum "Silicon Valley des Fußballs" machen und besuchte dafür das echte Valley in Kalifornien. Wie immer: alles für den Vorteil. (Martin Schauhuber, 11.6.2018)