Ideal geeignet für kulturelle Zwischennutzungen: die ehemalige Sargfabrik in Atzgersdorf.

Foto: Markus Steinbichler

Die Zukunft der Kulturstadt Wien hat man sich räumlich vorzustellen. Seit der folgenreichen Entdeckung des Erdumlaufs um die Sonne steht der Mensch vor der Tatsache, dass der Raum offen und der Idee nach unendlich erweiterbar ist. In der kulturellen Wachstumsstadt Wien kann es daher gar nicht genug Mehrzweckhallen geben. Seit Michael Ludwigs selbstbewusster Ankündigung, das Kulturangebot um eine solche Location zu erweitern, stellt sich dringender denn je die Frage nach einer Neuordnung der kulturellen Topografie.

Hauptbahnhof

Vor rund fünf Jahren ließ das Kulturamt mit seinem Wunsch nach einer neuen Großhalle im Umkreis des Hauptbahnhofs aufhorchen. Tatsächlich lautete die vollmundige Begründung, man müsse den Vereinigten Bühnen (VBW) die Chance einräumen, ihre spektakulären Musicalerfolge vor einem vieltausendköpfigen Publikum abzuspielen. Der damalige VBW-Chef Thomas Drozda – heute Kultursprecher der SPÖ – sprach von einem "Theater mit 1600 bis 1800 Plätzen". Die Frage, ob eine solche Bühne privat finanziert werden muss, geisterte nicht nur durch grüne Foren. Der Ruf nach einer Musicalarena in Wien-Favoriten verstummte bald.

Seebühne

Ludwig, der frischgebackene Stadtvater, möchte den Wienerinnen und Wienern für die überlange schöne Jahreszeit ein niederschwelliges Angebot legen. Als Alternative zu den Sommerspielen Mörbisch soll eine Sommerseebühne mit der leichten Muse locken. Ludwig nannte den 22. Bezirk als mögliche Heimstatt für die neue Gelsenreitschule. Das Schlagwort "Mozart an der Donau" lässt in seiner populistischen Vagheit noch keine endgültige Festlegung erahnen, wie eine städtische Sommerbühne tatsächlich bespielt werden könnte.

F23

Das Industriebauwerk der ehemaligen Sargerzeugung in Atzgersdorf hat – nach diversen Phasen der Zwischennutzung – seine Taufe als Party-Location der Wiener Festwochen glänzend bestanden, man denke an die Club-Kulturreihe Hyperreality. Mit der temporären Okkupation folgen die Festwochen der Idee, für die Dauer von Partys oder Festen Orte zur Verfügung zu stellen, die in einem unwirklichen Licht erscheinen.

"Gegenplatzierungen" oder "Widerlager" nannte der französische Philosoph Michel Foucault einst solche "Heterotopien". In diesen findet jede Gesellschaft Zuflucht vor den Ernüchterungen des Alltagslebens. Solche herausgehobene Stätten beerben die alten Festwiesen am Stadtrand, die sich früher ein- oder zweimal jährlich mit Buden und Feuerschluckern bevölkerten. Dem Volk aber, dem steuerzahlenden Souverän, wurden dort höchst wirksam die Suggestionen von Ekstase und Wirklichkeitsverdrängung beschert.

Mehrzweckhalle

Wien steht vor höchst anspruchsvollen Fragen kultureller Stadtplanung. Will das Kulturamt Tomas Zierhofer-Kins Öffnung der Festwochen wirksam unterstützen, muss es der Vielgestaltigkeit gerade der nichtrepräsentativen Kultur entschlossen Rechnung tragen. Das wird sich mit der Errichtung von ein paar – mehr oder minder schnell abbaubaren – Großhallen oder -bühnen allein nicht bewerkstelligen lassen. Und das Gewerkschaftsbarock des Theaters Akzent stellt für jede szenisch-installative Anstrengung (diesmal: The Virgin Suicides von Susanne Kennedy) nicht eine administrative, sondern eine auratische Zumutung dar.

Viele Jahre sind seit der Ankündigung ins Land (diesfalls: in die Stadt) gezogen, die Wiener Donauplatte mit Kulturinstitutionen zu besiedeln. Es wird Zeit, das Thema Dezentralisierung mit neuem Elan aufzugreifen. (Ronald Pohl, 8.6.2018)