Schöne Aussichten auf den Bermudas, einer berüchtigten Steueroase.

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Schulen und Kindergärten, ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz, moderne Spitäler und eine gut ausgerüstete Polizei: Damit Staaten ihre vielfältigen Aufgaben wahrnehmen können, brauchen sie von ihren Bürgern und Unternehmen Steuergeld. Eine Reihe spektakulärer Enthüllungen in den vergangenen Monaten – etwa Panama Papers oder Lux Leaks – hat gezeigt, wie multinationale Konzerne und wohlhabende Privatleute mit aggressivsten Methoden darum kämpfen, Steuern zu sparen.

Doch wie viel entgeht Gesellschaften weltweit durch solche Optimierungsstrategien? Der Ökonom Gabriel Zucman hat gemeinsam mit zwei Doktoranden von der Universität Kopenhagen einen neuen Anlauf unternommen, um das herauszufinden. Die drei haben dabei einige neue Erkenntnisse und imposantes Zahlenmaterial zutage gefördert.

Was sind die Erkenntnisse?

Im Jahr 2015, auf das sich die Untersuchung bezieht, haben Multis wie Google, Amazon, Nike und Co insgesamt 620 Milliarden US-Dollar an Gewinnen in Steueroasen verlagert (570 Milliarden Euro). Das entspricht 40 Prozent der gesamten Gewinne, die multinationale Unternehmen weltweit in diesem Jahr erwirtschaftet haben. Durch diesen Vorgang entgehen Industrieländern, insbesondere in der EU, aber auch Schwellen- und Entwicklungsländern, Einnahmen im großen Stil.

Was ist neu an der Studie?

In ihrem Paper "The Missing Profits of Nations" greifen die Autoren auf einen neuen Ansatz zurück. Bisherige Untersuchungen bauen auf Daten zu Einzelunternehmen auf. Forscher bedienen sich dabei privater Datenbanken wie Orbis, wo Unternehmensumsätze und Gewinne ausgewiesen werden. Auf Basis dieser Zahlen versuchen sie auszurechnen, wie viel Geld in Steueroasen verschoben wird. Die Unternehmensdatenbanken sind aber lückenhaft, viele Konzerne werden nur schlecht erfasst.

Zucman, der in Berkley forscht und weltweit als Experte für Steuerfragen gilt, und seine Kollegen analysieren deshalb erstmals offizielle Statistiken. Sie greifen auf volkswirtschaftliche Daten des Internationalen Währungsfonds und der Industriestaatenorganisation OECD zurück, die erst seit kurzer Zeit verfügbar sind. Aus diesen Datensätzen wird für jedes Land ersichtlich, wie viel Gewinn Unternehmen dort erwirtschaften und wie viel Lohn sie bezahlen.

Wie lief die Berechnung?

Dabei offenbarte sich den Ökonomen eine geteilte Welt: In Ländern wie Österreich, Deutschland, den USA oder Italien gilt, dass für jeden Dollar an ausbezahlten Löhnen 30 bis 40 Cent an Vorsteuergewinn bei einem Konzern anfällt. Ob es sich dabei um einen in- oder ausländischen Konzern handelt, macht fast keinen Unterschied.

In Steueroasen ist das völlig anders. Hier beschäftigen ausländische Unternehmen kaum Mitarbeiter, sie zahlen also fast keine Löhne. Bei multinationalen Unternehmen in Steueroasen entfällt auf jeden Dollar an ausbezahltem Lohn ein Vielfaches an Gewinn.

Ein klassisches Beispiel dafür ist Google. Den Löwenanteil seiner Gewinne erwirtschaftet der IT-Gigant in den USA und in Europa, aber ein großer Teil des Geldes, zuletzt fast 20 Milliarden US-Dollar, wird aus Steuergründen auf die Bermudas verschoben.

Als Steueroasen werten Zucman und seine Kollegen nicht nur die Bermudas oder die Cayman Islands. Übereinstimmend mit früheren Arbeiten zum Thema gelten für die Studienautoren auch die Schweiz, die Niederlande, Singapur, Irland und Hongkong als Steueroasen.

Rechnet man nun den exorbitanten Gewinnanteil der multinationalen Konzerne in den Oasen zusammen, ergibt das die erwähnten 620 Milliarden Dollar. Eine realwirtschaftliche Erklärung dafür, weshalb so viel Geld von ausländischen Konzernen in Steueroasen "verdient" wird, gibt es nicht. Unternehmen transferieren nicht im großen Stil Maschinen auf die Caymans oder investieren dort. Sie verschieben buchhalterisch ihre Gewinne, weil in den Oasen die Steuersätze deutlich niedriger oder gar bei null sind.

Wie kommt das Geld in die Steueroasen?

Multinationale Konzerne können sich verschiedener Strategien bedienen, um Gewinne aus einem Hochsteuerland wegzuschaffen. Beliebt ist etwa, mit hohen Lizenzgebühren zu arbeiten. Eine Konzerntochter zahlt Gebühren für die Nutzung von geistigem Eigentum an eine Schwestergesellschaft, die in einer Steueroase sitzt. Ist diese Gebühr entsprechend hoch, lässt sich damit ein guter Teil der Gewinne wegschaffen.

Google hat zum Beispiel Patentrechte auf den Bermudas registriert, Google-Töchter weltweit zahlen also für die Nutzung ebendieser Rechte. Was ein angemessener Preis dafür ist, lässt sich objektiv kaum ermitteln.

Auch der konzerninterne Verkauf von Produkten dient zur Verschiebung von Gewinnen. Dabei verkauft eine Gesellschaft in einer Steueroase anderen Konzerngesellschaften in Hochsteuerländern Produkte zu überhöhten Preisen. Damit bleibt der Spielraum für die Unternehmen bei der Bewertung groß.

Wer hat den Schaden?

Die Studienautoren ermittelten auch, aus welchen Ländern Konzerne wie viel Geld in Steueroasen verschieben. Im Falle Österreichs sind es 3,6 Milliarden Euro. Dem Staat entgehen demnach bis zu 900 Millionen Euro an Steuereinnahmen im Jahr, wenn man einen Körperschaftssteuersatz von 25 Prozent zugrunde legt.

Die Steueroasen hinterlassen aber in vielen Industrieländern bleibende Spuren: Im Schnitt verlieren Länder ein Zehntel ihrer Einnahmen aus der Besteuerung von Unternehmensgewinnen. In der EU steigt dieser Wert sogar auf fast 20 Prozent. Auch die USA und Entwicklungsländer zählen zu den großen Verlierern.

Die Studie ist, wie Co-Autor Ludvig Wier dem STANDARD sagt, bloß eine Annäherung an das Thema, er spricht von der "derzeit bestmöglichen Schätzung", weil selbst die verfügbaren öffentlichen Statistiken oft noch lückenhaft sind. (András Szigetvari, 13.6.2018)