Stil ist das Markenzeichen von K.-M. Gauß.

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Karl-Markus Gauß, "Die Bibliothekarinnen von Renens". € 20,- / 175 Seiten. Otto-Müller-Verlag, Salzburg/Wien 2018

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In der Salzburger Vorstadtsiedlung, in der Karl-Markus Gauß aufwuchs, gab es nur ältere Buben, er war immer "der Jüngste und Kleinste", so wie er es zu Hause bei den drei älteren Brüdern war. Um trotzdem mithalten zu können, verlegte er sich auf sein "Mundwerk", auf das Erzählen: Mit "haarsträubenden Geschichten", nämlich "Räuber- und Lügengeschichten", verschaffte er sich Geltung. Eigentlich merkwürdig, dass aus ihm kein Romancier, kein Krimiautor wurde, stattdessen ein Schriftsteller, der für seine Literatur keine Fiktion braucht, weil das Erzählen bei der Wirklichkeit beginnt. Vielleicht auch, weil es ihm schon damals um das Erzählen an sich ging? "Wenig hat mich als Kind so angetrieben wie der Wunsch, mir meinen Platz in der kleinen Welt der Siedlung redend zu erobern." Er wollte einfach gehört werden.

Aus dem kleinen Redner wurde später der große Schreibende, das Weitere ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass Gauß neben seinen mittlerweile sehr zahlreichen Büchern auch eine Vielzahl an Reden verfasst hat. Allein die vielen Literaturpreise, mit denen sein Werk ausgezeichnet wurde, bringen es mit sich, dass man sich mit Worten dafür bedankt. Und wenn man einmal zu den Berühmten gezählt wird, kommt man gar nicht mehr daran vorbei, da und dort als Festredner eingeladen zu werden.

Gefragte Stimme

Aber nicht deswegen ergreift Gauß so oft das Wort. Es hat weniger mit seinem "Hang zum Reden und zum Erzählen" zu tun, den er schon als Kind verspürte, als mit "Haltung": jene politische, kulturphilosophische Qualität, die seine Bücher auszeichnet. Und die sind allesamt erzählende, reflektierende Kostbarkeiten, die dem Genre des Essays zugeschrieben werden, aber in ihrer literarischen Befindlichkeit weit darüber hinausgehen und deren Relevanz längst in die Mitte unserer Gesellschaft greift: Ob man Gauß liest oder hört, seine Stimme ist einfach gefragt, wie zuletzt bei der Eröffnung der Buch Wien vergangenen November, als er in seiner Festrede weniger die Zukunft des Buches ansprach als vielmehr die Zukunft unserer Demokratie.

Das eine fordert das andere, da kann Gauß sehr tagespolitisch werden, immerhin galt es auch, sich über die Auswirkungen der vorangegangenen Nationalratswahl in Österreich Gedanken zu machen, Besorgnis zu äußern und einmal mehr die Freiheit des Wortes einzumahnen. Gauß tut das mit feiner Klinge, und als Leser und Zuhörer wüsste man gerne, ob auch schon der wortgewandte Knabe so sehr auf Stil Wert gelegt hat. Stil ist nämlich das Markenzeichen von Gauß' Literatur, die die Tradition der Rhetorik meisterlich beherrscht.

Demgemäß besticht auch in diesem Buch, das insgesamt 17 Reden aus 14 Jahren versammelt, die literarische Form, denn solche Reden werden am Schreibtisch verfasst und nicht erst am Rednerpult entwickelt. Gauß schreibt sie mit jener Genauigkeit und stilistischen Brillanz, mit der er auch seine legendären Reiseerzählungen oder seine Journale zum Zeitgeschehen verfasst. Sie sind Teil seiner Literatur. Sie sind Literatur.

Reflektiert, nachhaltig

Und so erfahren wir in diesen Reden, was wir aus seinen Büchern kennen, nur komprimierter und pointierter, ob es um das Europa der zwei Gesellschaften, die Geringschätzung von Minderheiten und das unsolidarische Verhalten in der Flüchtlingskrise geht oder darum, wie das soziale Gefüge immer weiter auseinanderklafft und die digitalen Medien unser Denken verändern. Diese Reden sind so allgemeingültig, wie sie anlassbezogen sein mögen. Will man sie darüber hinaus als Kommentar zum Gauß'schen Werk lesen, dann sei einem dafür auch sein Buch Lob der Sprache, Glück des Schreibens aus dem Jahr 2014 anempfohlen, in dem kleinere Essays und Reden als feingeschliffene Kritiken abgedruckt sind. Derlei Worte nämlich drängen um so vieles reflektierter und nachhaltiger in die Arena unseres Geisteslebens, als es die lauten und scheinbar so eindeutigen Statements des Zeitgeistes vermögen. Da begreift man auch, wie dieses Genre, das in der Antike und in der Renaissance als Kunstform so hoch im Kurs stand, im 20. Jahrhundert leichtsinnigerweise den Politikern überlassen und von diesen – naturgemäß – entwertet wurde.

Bei Karl-Markus Gauß bekommt die Rede wieder ihre literarische Bedeutung zurück. Denn er agiert als politischer Enzyklopädist, der uns zu mahnen bestrebt ist, wie er als Universalist der Sprache die Literatur als Handwerk und Kunst beherrscht. (Gerhard Zeillinger, 16.6.2018)