Blumen über den Dächern von São Paulo: "Wildness" (2014) von Nilbar Güres.


Foto: Courtesy Galerie Martin Janda, Wien

Eine Frau verwächst am Straßenrand mit der Vegetation. Grünzeug wuchert von hinten über eine Mauer, bedeckt bereits ihren Kopf. Anstelle des Gesichts gewahrt man Passionsblüten, leuchtend weiß. Unweigerlich möchte man an eine mythologische Mensch-Flora-Metamorphose à la Ovid denken – wäre da nicht das pinke Minikleid der Dame. Und wäre da nicht, leuchtend wie die Blüten, die Elektroschockpistole in ihrer Hand.

Blumengesicht nannte Nilbar Güres diese Fotografie aus dem Jahr 2014. Sie ist beispielhaft für die Arbeitsweise der 1975 in Istanbul geborenen, in Wien lebenden Künstlerin. Güres reflektiert die Situation von Frauen in der gegenwärtigen Gesellschaft, indem sie deren Alltag in poetische Fotografien, Videos und Collagen verwandelt. Auch die Personale im Linzer Lentos stellt das einmal mehr unter Beweis; die jüngsten Arbeiten dieses Überblicks datieren allerdings bereits aus dem Jahr 2014.

Für das Foto Blumengesicht stand eine (reale) brasilianische Sexarbeiterin Modell. Während darin einerseits an die mythologische Daphne erinnert wird, die sich auf der Flucht vor einem zudringlichen Gott Apoll in einen Lorbeerbaum verwandelte, verweist der Elektroschocker auf das gefährliche Geschäft Prostituierter im heutigen São Paulo.

Die Kooperation mit Sexarbeiterinnen ist bereits eine Weiterentwicklung eines früheren Konzepts. TrabZONE (2010) heißt eine Serie, in der sich Güres mit einem Ort ihrer Kindheit befasste. In Trabzon, einer erzkonservativen Stadt am Schwarzen Meer, lud sie ihre Mutter und Frauen aus deren Umfeld ein, für Fotografien zu "performen". Mit Arbeiten wie diesen zum türkischen Kulturkreis wurde Güres bekannt, 2014 erhielt sie den Otto-Mauer-Preis.

Ein Faszinosum ihrer Bildserien liegt darin, die Kunst in Lebenswelten eingemengt zu sehen, in denen man sie kaum erwartet. In der Fotografie Overhead (2010) trägt eine Bäuerin ihren gesamten Bettwäschevorrat auf den Händen, als ob der riesige Stapel keinerlei Gewicht hätte. Ein Bild für die Stärke der Frau mag man hier sehen. Zugleich verweist das Bild auf die Bedeutung, die in Güres Kunst Textilien zukommt: Kleidung, Stoffe, Muster und deren Bezug zur Identität von Menschen sind ein zentrales Thema.

Kopftuch bringt Unfreiheit

Das Kopftuch wird wiederkehrend thematisiert – und wenig Zweifel lässt Güres an ihrer Meinung zum umstrittenen Kleidungsstück: Unfreiheit bringt es. So suggeriert es etwa eine Fotografie mit dem Titel Junction (2010): Zwei Frauen stehen an einer Weggabelung, können aber nur einen der beiden Wege gehen. Sind sie doch, erinnernd an siamesische Zwillinge, unter ein und demselben Kopftuch gefangen.

Güres hält der Unterdrückung eine Kunst entgegen, die mit Verve von der Selbstermächtigung von Frauen erzählt. In der fabelhaften Serie Çirçir (2010) zeigt sie Frauen in maskulin konnotierten Szenen: Hier kommen drei des nachts auf einem Balkon zum konspirativen Treffen zusammen; dort sind sie, von Jung bis Alt, als illustre "Gang" abgelichtet.

Bestrickende Lebendigkeit

Abgesehen davon, wie leichtfüßig Güres hier bisweilen kunstgeschichtliche Zitate ins türkische Jetzt überträgt, bestrickt stets auch ein unmittelbarer "sozialer Aspekt" ihrer Bilder: Die zwischenmenschliche Energie und der Spaß, die bei der Entstehung dieser Szenen gewirkt haben müssen – man meint, sie greifen zu können.

Überzeugend sind auch Güres' Collagen. In luftigen, teils riesigen Tableaus verbindet sie Zeichnungen, Stoffe, Stickereien. Intuitiv verwandelt sie die vorgefundene Ästhetik einer verspielten, feinsinnigen Welt an. Sie umkreist auf diese Weise nicht nur Themen wie das Schönheitsideal, sondern lenkt zugleich den Blick auf das kleine, vermeintlich Nebensächliche: auf die zarte Sinnlichkeit sich kräuselnder Fäden, auf die haarfeinen Verästelungen von Zeichnungen mit dem Fineliner. Unbedingt beachtenswert erscheint ein Rat, den eine Collage illustriert: Place a tree in front of TV. (Roman Gerold, 19.6.2018)