Zumindest auf der Piste kann Beate Meinl-Reisinger normalerweise entspannen. Beim Skifahren auf dem Loser in Altaussee Anfang Jänner passierte aber das Gegenteil. Die leidenschaftliche Skifahrerin spürte plötzlich einen Schlag am Bein. Erst dachte sie, ein Drahtseil sei über die Piste gespannt worden. Als es aber hell wurde und sie lautes Donnern hörte, war ihr klar: Sie war gerade vom Blitz getroffen worden. Im Schock, erzählt die Neos-Politikerin heute, sei sie "im Affentempo" ins Tal gerast, um sich durchchecken zu lassen.

Beate Meinl-Reisinger übernimmt das Ruder bei den Neos: Ihre Mitstreiter beschreiben sie als entschlossen, direkt und kompromisslos – wenn nicht sogar stur.
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Auch für Neos-Parteichef Matthias Strolz war der Jahreswechsel einschneidend. Er fasste zu dieser Zeit für sich den Entschluss, der Politik den Rücken zu kehren, aus Sorge, nicht mehr genug Energie für den Job aufzubringen. Seine Stellvertreterin weihte er jedoch erst Anfang Mai beim Spaziergang im Lainzer Tiergarten in seine Rückzugspläne ein, gab ihr aber gleich mit, dass sie seine Wunschnachfolgerin sei.

Potz Blitz, war das Wintergewitter im Skiurlaub bereits ein Zeichen des mit Esoterik kokettierenden Neos-Parteigründers gewesen? Heute kann Meinl-Reisinger über den Vorfall lachen: "Meine Akkus wurden damals aufgeladen."

Logische Nachfolgerin

Die 40-Jährige erbat sich nach dem Gespräch mit Strolz Bedenkzeit. Die verheiratete Mutter zweier Töchter im Volksschulalter holte sich erst das Einverständnis ihrer Familie. Seither bereitet sie sich gewissenhaft auf ihre neue Rolle vor: Sie ist "Machtmensch und marschiert durch", heißt es aus dem Neos-Umfeld. Mitstreiter beschreiben sie als entschlossen, direkt und kompromisslos, wenn nicht sogar stur. Am Samstag wurde Meinl-Reisinger bei der Neos-Mitgliederversammlung mit fast 95 Prozent gewählt. Ein – der Öffentlichkeit unbekannter – Gegenkandidat hat sich gemäß der pinken Spielregeln selbst für das Amt vorgeschlagen, Konkurrenz ist er für die Wiener Landeschefin aber nicht.

Meinl-Reisinger ist für Strolz die logische Nachfolgerin. Gemeinsam bauten sie die Partei auf, zogen beim ersten Antritt mit fünf Prozent in den Nationalrat ein. Dennoch war das Verhältnis zu Strolz nicht immer friktionsfrei. Die Juristin sucht die Konfrontation nicht nur mit dem politischen Gegner, sondern auch in der Partei. Mitunter rügt sie Kollegen mit lateinischen Zitaten. Für Wien war sie die Richtige, schaffte als Spitzenkandidatin 2015 mit 6,16 Prozent den Einzug in den Wiener Gemeinderat, als der Hype um die neue Partei schon wieder verblasst war.

Die Wiener Neos positionierte Meinl-Reisinger als kantige Oppositionspartei: Kritiker meinen, bei ihr stehe "der Polit-Spin vor dem Inhalt".

Beate Meinl-Reisinger redet gern und viel. Sie gestikuliert, legt die Stirn in Falten, ballt die Hand zur Faust, wenn sie etwas betonen will. Sie "legt die Karten auf den Tisch", wie ihr künftiger Vize Nikolaus Scherak sagt. Die beiden kennen sich aus Gründerzeiten der Partei, heute zählt er zu ihren engeren Vertrauten. Nicht umsonst hat sie ihn und den Salzburger Sepp Schellhorn zu ihren Stellvertretern auserkoren, auch sie stellen sich am Wochenende dem Votum der Mitglieder. Schellhorn soll ihr dabei helfen, im Westen zu reüssieren. Derzeit beschränkt sich ihr Bekanntheitsgrad nämlich vorrangig auf den Wiener Raum.

Hauptsache dagegen

In der Bundeshauptstadt trug sie pinke Turnschuhe. Die Wiener Neos positionierte sie als kantige Oppositionspartei, die mit Ideen für Einsparungen im Verwaltungsapparat von sich hören ließ und rot-grüne Prestigeprojekte zerlegte. So präsentierten die Neos etwa einen "Abspeckplan für Wien". Darin enthalten: die Abschaffung der nichtamtsführenden Stadträte, die Halbierung der Anzahl der Magistratsabteilungen von 60 auf 30, oder auch die Zusammenlegung von Bezirken.

David Ellensohn, Klubobmann der Wiener Grünen, beschreibt Meinl-Reisinger als schnell und laut in ihrer Kritik. Die Neos seien mit dem Vorsatz in die Politik gegangen, es "anders machen" zu wollen. Jetzt sieht er aber nur mehr ein Motiv: "Hauptsache dagegen sein." Für Ellensohn ein Beleg dafür, dass bei Meinl-Reisinger "der Polit-Spin vor dem Inhalt steht".

Schwarze Vergangenheit

Auch Manfred Juraczka, Spitzenkandidat der Wiener ÖVP bei der Gemeinderatswahl 2015 und Sitznachbar im Rathaus, findet, dass Meinl-Reisinger "taktisch geprägt" ist. Er nimmt Veränderungen in der Politik der Neos wahr, seit die Grünen bei Wahlen Niederlagen einfahren. Die Pinken und vor allem ihre Frontfrau positionieren sich, nach Juraczkas Meinung, seither "ein Stück weiter links" – eine schlimme Beleidigung für jeden Neos-Politiker. "Sie wollen offenbar bei den Grünen absammeln", sagt Juraczka. Aufgefallen ist dem Stadtpolitiker auch Meinl-Reisingers Verhältnis zu Wirtschaftskammer und ÖVP, die sie als Feindbilder auserkoren habe. "Offenbar hat sie hier was abzuarbeiten", spielt er auf ihre schwarze Vergangenheit an.

Jung, bürgerlich, bildungsaffin, aufgeschlossen – Meinl-Reisinger verkörpert die Kernwählerschicht der Neos. Dabei ist sie das, was die Pinken häufig kritisieren – eine Berufspolitikerin. Tatsächlich wurde Meinl-Reisinger in der ÖVP sozialisiert. Sie arbeitete im Brüsseler Büro des Europa-Abgeordneten Othmar Karas – mit dem sie sich immer noch regelmäßig austauscht –, zurück in Wien fungierte sie in der Wirtschaftskammer als Referentin, bis sie ins Kabinett der damaligen Familienstaatssekretärin Christine Marek wechselte. Ihr folgte sie in die Wiener Landespolitik, doch der Law-and-Order-Kurs der Schwarzen missfiel ihr, sie distanzierte sich.

Der ehemalige Bürgermeister Michael Häupl zeigte sich über den Einzug der Neos in den Gemeinderat gar nicht erfreut. Für Meinl-Reisinger ein Ansporn.
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Heute wie damals ist Meinl-Reisinger eine Macherin mit hohem Arbeitspensum. "Sie mischt immer mit, bringt sich bei Strategien und Kampagnen ein", erzählt Abgeordnete Claudia Gamon. Es ärgert die Jungpolitikerin, dass ihrer "inoffiziellen Mentorin" von Kritikern häufig Charisma und Lockerheit abgesprochen werden: "Frauen müssen immer erst den Gegenbeweis antreten."

Gar nicht riechen konnten sich Meinl-Reisinger und der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl. Schon beim ersten Treffen soll ihr Häupl entgegnet haben: "Auf Sie haben wir nicht gewartet." Bei seinem Abschied sagte sie nicht ohne Genugtuung, dass gerade das Ansporn für ihre Arbeit im Rathaus gewesen sei. "Dann werden Sie uns noch kennenlernen", habe sie sich gedacht.

Beirat aus der Wirtschaft

Kennenlernen will sie als neue pinke Frontfrau nun auch das gesamte Land. Im Sommer macht sie eine "Zuhör-Tour" durch Österreich, um Themen und Ideen von den Menschen zu sammeln.

Als Parteichefin will sie achtsam mit sich umgehen, Auszeiten sind ihr wichtig. Ihre Töchter helfen ihr dabei. Wenn sie zuhause die Tür aufmacht, ist das Leben ein anderes. Auch Sport hilft ihr, auf andere Gedanken zu kommen. Einmal die Woche spielt sie Tennis, Yoga und Crossfit hat sie wieder an den Nagel gehängt.

Bei der Arbeit ist sie weniger Einzelkämpferin, sondern gibt sich teamorientiert. Ein Nein akzeptiert sie nur, wenn es gut begründet ist, berichten Mitarbeiter. Ihr partizipativer Arbeitsstil steht auch im Gegensatz zu Strolz, der Ideen am liebsten selbst entwickelt hat. Sie sucht aktiv den Austausch: "Ich höre zu und bilde mir dann ein Urteil." Das will sie in Zukunft institutionalisieren. Ab Herbst, wenn sie im Parlament Klubchefin wird, soll ihr ein Beirat zur Seite stehen. Bisher sind fünf Leute aus der Wirtschaft mit an Bord, die sie in inhaltlichen Fragen beraten werden.

Steile Vorlage

Im Parlament haben die Neos die notwendigen Stimmen für eine Zweidrittelmehrheit. Meinl-Reisinger ist offen, bei Gesetzen mit Türkis-Blau mitzustimmen. "Bei der Abschaffung der Zwangsmitgliedschaften wären wir sofort dabei", sagt sie im Hinblick auf das Lieblingsfeindbild der Pinken, Arbeiter- und Wirtschaftskammer. Bloß gab es bisher kaum Verhandlungen mit ihnen.

Eigene Fußstapfen will Meinl-Reisinger hinterlassen, nicht nur jenen ihres Vorgängers folgen. Strolz’ letzte Ansage für die Partei: Sich nicht mehr mit 5,3 Prozent wie bei der Nationalratswahl 2017 zufrieden zu geben, sondern 20 Prozent zu erreichen. Eine steile Vorlage, die aus heutiger Sicht unerfüllbar scheint. (Marie-Theres Egyed, Rosa Winkler-Hermaden, 23.6.2018)