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Die Botschaft von 2015, die Grenzen seien offen, war politisch verheerend für Europa. Mit Stacheldraht und immer schärferen Kontrollen wollen die meisten EU-Regierungen nun diese Entwicklung korrigieren.

Foto: REUTERS / Laszlo Balogh

Lesen Sie eine Replik auf dieses Plädoyer von Peter Mayr und András Szigetvari: "Eine "Festung Europa" wird Rechtspopulisten nicht stoppen".

Es ist drei Jahre her, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel angesichts der Bilder vom Syrien-Krieg und der Hetze gegen Migranten in Ungarn entschied, dass Deutschland Flüchtlinge aufnehmen und auf bürokratische Hürden verzichten werde. Was als humanitäre Geste und Zeichen des politischen Anstands gedacht war, hat das Gesicht Europas verändert – aber nicht so, wie Merkel und ihre Anhänger es erhofft hatten.

Denn es kamen viel mehr Menschen als erwartet nach Europa, über die Balkanroute genauso wie übers Mittelmeer. Und hinter den Bildern der Hilfsbereitschaft verwandelte sich bei der schweigenden Mehrheit die anfängliche Skepsis in Zorn.

In allen von der damaligen Flüchtlingswelle betroffenen Staaten – von Deutschland über Österreich bis Ungarn und Italien – sind seither rechte und rechtspopulistische Parteien bei Wahlen erstarkt und haben die Oberhoheit über den öffentlichen Diskurs errungen.

Merkel führt in der eigenen Regierung ein Rückzugsgefecht um ihre Vision einer solidarischen Asylpolitik. Der Minigipfel am Sonntag in Brüssel wird trotz Absenz der Visegrád-Staaten wohl von jenen Politikern dominiert, die Merkels Politik als gravierenden Fehler betrachten und die Europas Grenzen dichtmachen wollen, allen voran Kanzler Sebastian Kurz. War der damalige Außenminister 2015 noch recht allein mit seinen Warnungen vor der "Willkommenskultur", hat er heute die Mehrheit der EU-Staaten hinter sich – und vor allem die öffentliche Meinung.

Von der Skepsis zum Zorn

Und diese ist in Demokratien kein Faktor, den man vom Tisch wischen kann. Spätestens nach der Silvesternacht von Köln sank die Unterstützung für Migration aus der islamischen Welt dramatisch, die Terroranschläge von Paris und Brüssel taten ihren Teil dazu. Mit dem Widerstand gegen die Asylpolitik wuchs die Europaskepsis, und er schwächte die EU wohl noch mehr als die Eurokrise.

Eine Politik, die menschlich, rechtskonform und weitsichtig klang – Merkel wurde in Medien weltweit gefeiert und erhielt auch in Österreich viel Zuspruch -, erwies sich als Torheit. Denn Migration und Islam sind die beiden emotionalen Schlüsselthemen unserer Zeit – und die Flüchtlingswelle verband beides. Es geht dabei um Identität, Heimat, das Gefühl von Gefahr und Sicherheit.

Dem ist mit rationalen Argumenten nicht beizukommen. Eine neue Studie der drei Ökonomen Alberto Asina, Armanda Miano und Stefanie Stantcheva zeigt, dass die meisten Europäer und Amerikaner die Zahl der Migranten, die Zahl der Arbeitslosen aus dieser Gruppe und die ihnen gewährte Sozialhilfe deutlich überschätzen.

Und tatsächlich hat auch der Ansturm von Asylwerbern von 2015 und 2016 den Alltag der meisten Menschen kaum berührt, der Rückgang seither wird deshalb auch oft nicht wahrgenommen. Aber die Bilder von damals haben sich festgesetzt, und das anhaltende Unbehagen hat einen realen Kern: Die Gesellschaft ändert sich durch Migration, und nicht immer zum Vorteil.

Ohne das Reizthema Migration gäbe es wohl keinen Brexit, keinen Donald Trump im Weißen Haus, keine AfD im Bundestag und keine FPÖ in der Bundesregierung.

Verhöhnung des Rechtsstaates

Verschärft wird das Problem, wenn die Politik den Eindruck vermittelt, nicht Herr der Lage zu sein. Als Tausende täglich zur Grenze strömten, argumentierten die Befürworter der Aufnahme vor allem rechtlich: Wir sind durch die Genfer Konvention, die EU-Richtlinien und die eigenen Gesetze dazu gezwungen, jeden Asylwerber an der Grenze aufzunehmen und seinen Fall einzeln zu prüfen. Liege kein Asylgrund vor, werde man ihn wieder abschieben.

Die Frage, ob dieses aus der Nachkriegszeit stammende Prinzip auch anwendbar ist, wenn Millionen nach Europa wollen, von denen die Mehrheit nicht politisch verfolgt ist und bereits mehrere sichere Drittstaaten durchquert hatte, war verpönt – ebenso der Hinweis, dass dadurch jeder Mensch mit tausend Dollar in der Tasche die Chance bekommt, in ein reiches europäisches Land mit all seinen Jobangeboten und Sozialleistungen zu gelangen.

Diese Botschaft verbreitete sich schnell und schuf an Österreichs Grenzen jene oft chaotische Lage, die von vielen als Verhöhnung des Rechtsstaates wahrgenommen wurde. Konsequente Rückführungen scheitern an politischen Realitäten, ebenso die konsequente Umsetzung des Dublin-Prinzips, das den Mittelmeerstaaten die ganze Last aufladen würde.

Und die NGOs, die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer aufnehmen, werden ungewollt zu Beteiligten in einem rücksichtslosen und höchst profitablen Schleppergeschäft. Die tolerante Asylpolitik war nicht nur unpopulär, sie war auch wegen der von ihr ausgelösten Konsequenzen weder rechtlich noch politisch stimmig.

Ruf nach europäischer Lösung

Als die Zahl der gestrandeten Flüchtlinge in Griechenland und Italien immer weiter wuchs, erschallte der Ruf nach einer europäischen Lösung. Die Antwort war der Beschluss der EU-Staaten, eine Quotenregelung für die Verteilung von Asylwerbern einzuführen – ein weiterer schwerer Fehler. Er wurde zwar nie umgesetzt, reichte aber aus, um auch in Ländern ohne signifikante Migration die Xenophobie anzuheizen.

Auch das hatte seinen guten Grund, wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev betont: Für Bürger der exkommunistischen Staaten ist die Aussicht auf Einwanderung aus anderen Kulturen noch viel bedrohlicher als für Westeuropäer, die schon seit Jahrzehnten mit Migration leben. Die neuen Mitgliedsstaaten rückten als Folge weiter nach rechts und gefährden seither – etwa in der Person von Viktor Orbán – das gesamte Projekt der EU. Der freie Reiseverkehr unter dem Schengen-Regime ist hier nur das harmloseste Opfer dieser Rückwärtsbewegung.

Der Ruf nach einer gemeinsamen EU-Asylpolitik mag zwar vernünftig klingen, aber in der Praxis überfordert sie die Union. Es ist für viele Bürger schwierig genug, Zuwanderung aus der EU zu akzeptieren, die Frage, ob Migranten aus anderen Kulturen ins Land kommen können, wollen die wenigsten Brüssel überlassen. Es ist, als ob die EU anordnen würde, dass bei der Fußball-WM die Europahymne statt der Nationalhymnen gespielt werden muss.

Gefährdung der Grundwerte

Europas liberale Kräfte haben das mächtigste Thema unserer Zeit den Populisten, Opportunisten und potenziellen Autokraten überlassen und gefährden damit die Grundwerte. Durch eine halbherzige Kurskorrektur lässt sich das kaum reparieren.

Notwendig ist ein lautes Signal an alle potenziellen Migranten: Europas Grenzen sind dicht, mit Schlauchbooten und Schleppern kommt ihr nicht durch. Und es wäre auch die dringend erwartete Botschaft an die eigenen Bürger: Wir entscheiden selbst, wer ins Land kommt. Ihr könnt uns vertrauen.

Dafür braucht es nicht nur einen verstärkten Grenzschutz, sondern auch ein System, bei dem die Rettung aus dem Meer keinen Eintritt nach Europa ermöglicht. Das vielgescholtene australische Modell, Asylwerber in Lager weit weg von der Wunschdestination zu bringen, erfüllt etwa diesen Zweck.

Man kann alle Pläne dieser Art, seien es Flüchtlingszentren in Nordafrika oder in Albanien, heftig kritisieren. Aber man muss dann erklären, wie der Anreiz, übers Meer in die EU zu gelangen, anders beseitigt werden kann. Denn eines hat man seit 2015 gelernt: Liberale Asylpolitik gefährdet die liberale Gesellschaft.

Gift für jede Gemeinschaft

Der wirkliche Test einer solchen Gesellschaft ist nämlich die Frage, wie man mit den Menschen umgeht, die bereits im Land sind. Überlässt man dieses Feld den Politikern, die mit Fremdenhass und Hetze spielen? Die Integration erschweren, statt sie zu fördern, und dann "Haltet den Dieb" schreien, wenn Migranten keine Arbeit finden und in der Sozialhilfe oder Kriminalität landen?

Das Argument, dass Anstand gegenüber anerkannten Flüchtlingen nur neue Migranten anzieht, ist Gift für jede Gemeinschaft. Hier ist Großzügigkeit gefordert, die dank dichter Grenzen keine Magnetwirkung auslöst.

Wünschenswert wäre es auch, dass nicht mehr junge Menschen mit guten Deutschkenntnissen und Lehrstelle per Bescheid abgeschoben werden, weil sie vor dem Gericht persönliche Verfolgung nicht nachweisen können. Jeder dieser Fälle zeigt: Das heutige Asylrecht war und ist der falsche Maßstab für eine rationale und humane Migrationspolitik. Zu einer solchen würde längerfristig auch ein großzügiges Resettlement gehören, also die direkte Aufnahme von Flüchtlingen aus den Krisengebieten.

Doch all das lässt sich politisch erst umsetzen, wenn sich die Furcht vor der Einwanderungsflut, die die Ereignisse von 2015 ausgelöst haben, gelegt hat. Europa muss erst zur Festung werden, damit Toleranz, Liberalismus und Vielfalt auf dem Kontinent wieder eine Chance bekommen. (Plädoyer: Eric Frey, 23.6.2018)