"Hallo Cruella!" Wann immer ein Kind sie auf den Straßen New Yorks mit dem Namen der bösen Exzentrikerin aus 101 Dalmatiner grüßt, ist Martha Wilson glücklich. Denn nichts sei schlimmer als übersehen zu werden. Als die heute 71-jährige US-Künstlerin mit 60 auhörte, ihr Haar zu färben, erlebte sie, dass Menschen in sie hineinrannten, als sei sie unsichtbar. Seither trägt Wilson die Haare gescheitelt, eine Seite hennarot, eine grau, und macht die Unsichtbarkeit alternder Frauen sehr pointiert zum Thema ihrer Kunst.
The Two Halves of Martha Wilson's Brain lautet der Titel ihrer kleinen Retrospektive im Kunstraum Niederösterreich (bis 28. 7.). Kaum vorstellbar, aber die Wiener Schau ist die erste Personale der Pionierin feministischer (Performance-)Kunst außerhalb der USA. Im Zuge der Befragung weiblicher Rollenbilder schlüpfte sie immer wieder in die Kostüme der First Ladies, war aber auch Förderin und Veranstalterin: 1976 gründete sie in Lower Manhattan den legendären Offspace Franklin Furnace, wo inzwischen berühmte Künstlerinnen wie Jenny Holzer oder Ana Mendieta zu Gast waren.
STANDARD: Ihr Erstkontakt mit New Yorks Galerienszene war heftig. 1974 – ganz neu in der Stadt – trafen Sie Ivan Karp, einen der damals wichtigsten Galeristen in Soho. Er schrie Sie an und hat Ihre Arbeiten niedergemacht. Was hat ihn so erbost? Ihre frühen feministischen Fotoarbeiten?
Wilson: Ich inszenierte mich etwa als Mann, der wie eine Frau wirken will, als alte Lady, die versucht jung auszusehen, oder als Bursche, der probiert, in der Herrentoilette als Mann durchzugehen. Karp brüllte: "Diese Arbeiten sind schrecklich!" Der eigentliche Grund war jedoch, dass Feminismus weder populär noch marktfähig oder gar akzeptabel war – nicht einmal in der Kunstwelt.
STANDARD: Deswegen fuhr er so aus der Haut?
Wilson: Er hatte vermutlich einen Hang zur Theatralik. Er wollte nicht mit mir diskutieren, eigentlich gar nicht mit mir reden. Er wollte nur, dass ich gehe. Mit Erfolg.
STANDARD: Haben Sie ihm später einmal sagen können, was Sie von ihm halten?
Wilson: Nein. Ich fühlte mich so zurückgewiesen und bin nie wieder in seine Galerie zurückgekehrt. Aber was er tat, war zugleich wundervoll, denn er löste den Zorn in mir aus, mit dem ich Franklin Furnace gründete, einen Ort, um die Kunst, die ich und Freunde machten, auszustellen. Auf eine Art muss ich ihm also dankbar sein.
STANDARD: Sie haben ja ursprünglich englische Literatur studiert. Wieso dann Kunst?
Wilson: Mir lag die Literatur, aber meine Leidenschaft war sie nicht. Ich hatte das Gefühl, Wasser zu treten, nirgends hinzukommen, lediglich den Kopf über Wasser zu halten. In meiner Doktorarbeit über Henry James wollte ich dann mein Interesse für bildende Kunst integrieren, seine Novellen grafisch aufschlüsseln. Heute nennt man das interdisziplinär, damals wurde es abgelehnt. Ich war sauer. Als ich wenig später die Chance bekam, Literatur an der Kunstuniversität am Nova Scotia College of Art & Design in Halifax, Kanada, zu unterrichten, sagte ich sofort zu.
STANDARD: Und dieses Umfeld inspirierte Sie zu Ihren ersten Fotopersiflagen? Sie stellten existierende Rollenklischees von Frauen dar, posierten als Lesbe, Hausfrau, Erdmutter, göttliche Diva oder keckes Working Girl.
Wilson: Viele Konzeptkünstler jener Zeit kamen damals ans Nova Scotia, darunter auch Vito Acconci. Er riet mir, Erving Goffmans The presentation of self in everyday life zu lesen. Es handelt davon, wie wir alle – nicht nur die Künstler – im Alltag ständig performen. So begann ich über Performance und stereotype Rollenbilder nachzudenken.
STANDARD: Aus den konzeptuellen Arbeiten wurden wirkliche Performances. Erschienen Ihnen Performances wirkungsmächtiger?
Wilson: Das hatte mit New York zu tun. Ich schloss viele Freundschaften mit Frauen, die Szene war nicht konkurrenzgetrieben, es war eine herzliche, energiegeladene Atmosphäre, in der sich alle unterstützten. Streitlustig waren wir auch. Angebrüllt haben wir uns freilich nicht, aber wir stritten etwa darüber, ob wir als Feministinnen in Konsequenz auch Lesbierinnen sein müssten.
STANDARD: Das war eine Frage?!
Wilson: Ja, oder ob man sich schminken soll oder nicht. Über soziale Fragen in Bezug auf das Frau-Sein wurde viel diskutiert.
STANDARD: War die Frauenbewegung in New York so viel intensiver als in Kanada?
Wilson: In Halifax gab es keine Frauenbewegung. Selbst die Kunstuni lehnte weibliche Karrieren offen ab. Sogar mein Mentor sagte: "Frauen schaffen es nicht in der Kunstwelt." Ein paar hatten doch in der männlichen Kunstwelt reüssiert: Die Malerinnen Joan Mitchell und Helen Frankentaler. In New York nahmen mich Frauen zu bewusstseinsbildenden Treffen mit. Ich war es müde, allein zu arbeiten, und so begann ich zu kollaborieren. Jeder kollaborierte, jeder war in irgendeiner Band.
STANDARD: Das Kollaborieren ist ziemlich aus der Mode gekommen, scheint mir.
Wilson: Ich denke, der kommerzielle Imperativ ist zurück. Für eine Zeit unterwanderten wird das kommerzielle Galeriesystem und das, was wir taten war populär. Aber dann entdeckten die Galeristen, wie man auch temporäre Installationen und Performances zu Geld machen kann.
STANDARD: Und wie bezahlten Sie die Miete?
Wilson: Mit anderen Jobs. Das erhält Dir Freiheiten. Ich sage immer, wenn du einen Brotjob hast, kann dir niemand verbieten, etwas zu machen.
STANDARD: Ich zitiere Sie: "Die Guerrilla Girls haben erkannt, dass BHs zu verbrennen nicht genug ist." Erzielten die Guerilla Girls mit ihren Plakaten tatsächlich größeren Effekt?
Wilson: Ich denke schon. Die Plakate waren schon sehr direkt, und sie waren am Anfang auch gar nicht witzig wie "Do women have to be naked to get into the Metropolitan Museum". Sondern sie klagten an: "Diese Künstler zeigen ihre Arbeiten in Galerien, die keine Kunst von Frauen ausstellen. Claes Oldenburg, was wirst du dagegen unternehmen?" Sie nahmen die Künstler in die Pflicht, mit ihren Händlern über Frauendiskriminierung in der Kunstwelt zu sprechen. Später ging es direkt gegen die Galerien, dann gegen die Medien, die mehr über Männer als über Frauen schrieben.
STANDARD: Es waren die First Ladies, die Sie später in Performances parodierten: Nancy Reagan, Barbara Bush und "Second Lady" Tipper Gore. Hat davon je eine reagiert?
Wilson: Ja, einmal gab es einen Telefonanruf aus dem Büro von Tipper Gore. Der Anrufer erkundigte sich, ob Tipper Gore heute in New York auftritt. Als man antwortete "Nein, das ist Satire", fragte die Person in Washington: "Was ist Satire?" Aber das war das einzige Mal, dass irgendjemand in Washington dem, was in Downtown passierte, Notiz schenkte. Jemand sagte mir, er halte es für möglich, dass die Probleme, die wir in der Zeit der sogenannten Cultural Wars der 90er hatten, als sie Franklin Furnace die Förderung streichen wollten, mit meinen Performances zu tun hätten. Könnte sein, aber ich glaube nicht, dass es so war.
STANDARD: Melania Trump haben Sie nicht in Ihre First-Ladies-Performanceserie aufgenommen? Warum nicht? Können Sie sich Melania nicht als Rednerin vorstellen?
Wilson: Genau. Melania ist sehr, sehr still. Ich weiß nicht mal, wie sie klingt. Ich habe den Eindruck, sie ist wie ein gefangenes Tier, in der Art, wie sie sich nach innen wendet. Sie ist so verhalten. Ich glaube, sie schützt sich vor dem Biest, an das sie gebunden ist.
STANDARD: Die Daumen-rauf-Pose dieses Biests karikieren Sie mit dem Foto "Thump". Woher rührt Ihr Sinn für Humor?
Wilson: Ich glaube aus der absurden Situation, in die wir Frauen geboren wurden. Wir wurden geboren, zweite Garnitur zu sein, und nun wird von uns erwartet, trotzdem Erfolg zu haben. Obwohl wir stets weniger als Männer galten, sollten wir nun mit ihnen wetteifern. Ich denke, der Humor kommt aus dieser unmöglichen, absurden Position. Frauen verstehen, worum es in dem Witz geht. Die Welt hat sich weiterentwickelt; inzwischen werden die Rechte von Schwarzen, von Homosexuellen und Transgender anerkannt. Aber der Feminismus muss sich auch weiterentwickeln.
STANDARD: Wollen Sie den Frauen in Österreich etwas ausrichten?
Wilson: Ich zitiere Yvonne Rainer. Sie sagte ihren Tänzern vor einem Stück, bei dem mit Anfeindungen zu rechnen war: "Einfach weitermachen. Das ist alles, was Du tun musst." (Anne Katrin Feßler, 23.6.2018)