Wie Vermessungen – bei gleicher Raumtemperatur – ergaben, beträgt die Fläche männlicher Brustwarzen nur rund 36 Prozent der Fläche von weiblichen.
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Eines der Hauptinteressen von Evolutionsbiologen besteht in der Klärung der Frage, ob sich bestimmte Merkmale angepasst haben, um einem "sinnvollen" Zweck zu dienen, oder ob sie sich lediglich zufällig entwickelt haben. Anders formuliert: Forscher versuchen herauszufinden, ob ein Merkmal (zum Beispiel die Halslänge der Giraffe) funktional ist und der natürlichen und/oder der sexuellen Selektion unterliegt – oder eben nicht.

Einige einflussreiche Fachvertreter gehen zudem davon aus, dass eine geringe Vielfalt in der Größe und Form bestimmter biologischer Merkmale ein Hinweis darauf ist, dass diese einen sehr spezifischen Zweck haben und das Ergebnis einer starken Selektion sind. Sehr variable körperliche Merkmale hingegen wären Folge einer schwachen evolutionären Selektion.

Ein erogenes empirisches Beispiel

Um nach längerer theoretischer Vorrede die Sache nun endlich praktisch interessant zu machen, sei ein – eher umstrittenes – Beispiel für schwache Selektion erwähnt: der weibliche Orgasmus. Der habe sich, so behaupten einige Forscher, im Vergleich zum männlichen eher zufällig entwickelt. Als "Beweis" dafür dient die sehr variable Größe der Klitoris bei Frauen. Die Größe der Penisse sei im Vergleich dazu sehr viel einheitlicher – und der männliche Orgasmus ergo "funktionaler".

Die evolutionsbiologische Ausgangsthese und auch das illustrierende Beispiel sind Gegenstand von mehr oder weniger heftigen Debatten. Und nun üben australische Forscher um Ashleigh Kelly (University of Queensland in Australien) mit einem ebenfalls leicht erogenen Gegenbeispiel Kritik an der Grundannahme: nämlich mit der Größe männlicher und weiblicher Brustwarzen.

Eine eher bescheidene Stichprobe

Die Stichprobe für ihre Studie im Fachblatt Adaptive Human Behaviour and Physiology war eher klein: Es ließen sich nämlich nur 63 Testpersonen (33 männliche und 30 weibliche Studierende) die Brustwarzen scannen. Bei den Vermessungen wurde aber wissenschaftlich sehr streng vorgegangen: Unterschiede der Körpergröße oder des Body-Mass-Index der Teilnehmer wurden ebenso berücksichtigt wie auch – wichtig – die Temperatur des Raums, in dem die Nippel-Scans durchgeführt wurden. Außerdem fanden Unterschiede in der Oberweite der Frauen sowie der Brustgröße der Männer Eingang in die Studie.

Die Ergebnisse der Messungen waren nicht allzu überraschend: Erstens waren weibliche Brustwarzen inklusive Areola größer als männliche: Konkret betrug die Größe der männlichen Nippel im Schnitt nur rund 36 Prozent der weiblichen. Zweitens schwankte die Fläche der weiblichen Brustwarzen sehr viel stärker als die der männlichen.

Wie sehr Form und Größe weiblicher Brustwarzen schwanken, zeigt bereits diese Illustration aus einem Lehrbuch für Geburtshilfe aus dem Jahr 1899.
Wikimedia, aus einem Lehrbuch für Geburtshilfe aus dem Jahr 1899

Widerlegung zweier Annahmen

Damit widersprachen die Messergebnisse offensichtlich der evolutionsbiologischen Ausgangsthese, wie Kelly erklärt: "Da weibliche Brustwarzen eine wichtige Funktion erfüllen, weil sie zum Stillen des Babys gebraucht werden, müssten sie eigentlich sehr viel einheitlicher sein als die männlichen." Wir ergänzen: zumal Letztere zu den am ehesten entbehrlichen Merkmalen des menschlichen Körpers zählen.

Ziemlich verzichtbar: die männliche Brustwarze.
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Die größere Bedeutung dieser kleinen Studie liegt für Kelly auf der Hand: Zum einen stellt sie die These infrage, dass funktionale Merkmale einheitlicher sind als funktionslose. Zum anderen sei damit auch die These falsifiziert, wonach die erheblichen Klitorisgrößenunterschiede auf die nachrangige Bedeutung des weiblichen Orgasmus hindeuten würden. (tasch, 29.6.2018)