Manch ein Epochenwechsel wird von einem dröhnenden Schweigen begleitet. Vor den Augen aller hat sich in Europa ein spektakulärer Gesinnungswandel vollzogen. Dem emanzipatorischen Denken der Alt-68er und derer, die von ihnen gelernt haben, wird heute von vielen Kommentatoren ein verheerendes Zeugnis ausgestellt.

Jean-Paul Sartre (1905-1980) galt lange als Inbegriff des ruhelosen, engagierten Denkers. Heute gießt man ihn (hier in Litauen) in Bronze.
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Rückschauend gibt es kein neues Verständnis mehr für die alten Ungerechtigkeiten. Diese waren einst dafür ausschlaggebend, dass unzufriedene Jugendliche auf die Straße gingen, angehende Uni-Lektoren aber in die Zeitungsredaktionen.

Nicht das "damalige" Unbehagen ist es, das recht behält, wenn man die jüngere Vergangenheit befragt. Die Erinnerung an den Pariser Mai 1968, an alte Weltverbesserungsvorschläge und an nicht ganz so alte Demokratiedefizite weckt nicht nur bei vielen Nachgeborenen verlässlich Unmut.

Pendel in die Gegenrichtung

Heute überwiegt in intellektuellen Milieus die Genugtuung, dass das Pendel spürbar in die Gegenrichtung ausschlägt. Das Wissen über die Gesellschaft hat sich abgeklärt. Mit dem Erstarken rechtspopulistischer Politik hat auf der europäischen Bühne das Verständnis für emanzipatorische Anliegen – womöglich noch verpackt in den theoriegesättigten Jargon der Linken – stark abgenommen. Der Wechsel des Meinungsklimas korrespondiert nicht nur in Mitte-rechts regierten Ländern mit dem Bedeutungsverlust des "engagierten Intellektuellen". Diese Figur entsprang einst der Konkursmasse der Aufklärung.

Engagierte Intellektuelle halfen in demokratisch oder in posttotalitär organisierten Gesellschaften mit, an deren Machthaber normative Ansprüche zu stellen. Diese sollten möglichst laut artikuliert werden, damit sie nicht in den Wind geschlagen werden konnten. Weniger sozialwissenschaftlich gesprochen: Im Westen waren es die Intellektuellen, die den Demokratien das Wissen um die von ihnen benötigten Werte einimpften. Man hörte auf die Intellektuellen, man nahm sich ihre Ausführungen sogar zu Herzen. Danach ging man wieder zur Tagesordnung über.

Luxeriöse Theorien

Denker wie der existenzialistische Marxist Jean-Paul Sartre entwickelten luxuriöse Theorien darüber, wie Einsichten beschaffen sein müssen, um öffentlich wirksam zu werden. Der Starnberger Philosoph Jürgen Habermas entwarf – als eigensinniges "Kind" der Kritischen Theorie – ein bestechendes Modell, wie unser aller Verständigung über emanzipatorische (oder auch nur demokratiepolitische) Anliegen auszusehen habe.

All diesen Versuchen liegt die ehemals von der Mehrzahl der Menschen geteilte Auffassung zugrunde, dass es die Wirklichkeit verdient, verändert zu werden. Heute klingen selbst arrivierte Denker deutlich schüchterner.

Als der Münchner Soziologe Armin Nassehi kürzlich im Wiener Kreisky-Forum mit famoser Beredsamkeit die sozialdemokratische Politik in Europa kritisierte, geizte er nicht mit Giftpfeilen mitten hinein ins Herz roter Identität. Er sei Sozialwissenschafter, beschied er den Genossen – und kein Politikberater. Anwesenden SPÖ-Politikern empfahl er, die Massen mit der "Erotik des Gelingens" für sich zu begeistern.

Hoffnung namens de Lagasnerie

Aber parallel zum Überhandnehmen rechter Positionen auf dem Meinungsmarkt (gemeint ist nicht Nassehi) häufen sich die Stimmen derer, die sich mit der Abwicklung des links-liberalen Diskurses nicht länger abfinden wollen.

Das Comeback des "engagierten Intellektuellen" trägt zum Beispiel einen französischen Namen. Der gerade einmal 36-jährige Eribon-Schüler Geoffroy de Lagasnerie hat ein nunmehr auch auf Deutsch greifbares Pamphlet verfasst, provokant betitelt mit Denken in einer schlechten Welt.

In diesem wohltuend einseitigen Text macht de Lagasnerie Schluss mit der behaglichen Vorstellung vom Gelehrten, der, ungerührt von der ihn umgebenden Wirklichkeit, die Brosamen des Wissens aufliest, um sie jedem beliebigen Auftraggeber anzudienen. Der streitbare Jungsoziologe nennt jede Herstellung von Wissen, das diesen Namen verdient, eine nützliche Tat. Wer meint, er müsse Wissen und Intervention voneinander trennen, der stützt mit seinen Erkenntnissen vorsätzlich die schlechte, weil auf der Ausbeutung viel zu vieler Menschen beruhende Einrichtung der Welt.

De Lagasnerie negiert den linken Katzenjammer. Er postuliert die Errichtung oppositioneller Felder, auf denen die Produzenten des Wissens von vornherein mit anderen Angehörigen der Zivilgesellschaft den Schulterschluss suchen. Wer wahrhaftig "wissen" will, wird sich mit vorgefundenen Ungerechtigkeiten nicht abfinden. Und so nährt ein französischer Soziologe mit bubenhaftem Lächeln die Hoffnung auf das Comeback einer unzeitgemäßen Figur: der des "engagierten Intellektuellen".

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Isolde Charim ist Wiener Philosophin und Publizistin.
Foto: Heribert Corn

Isolde Charim: "Wir leisten Begriffsarbeit"

Mir kommt vor, dass Geoffroy de Lagasnerie an dem Punkt angelangt ist, an dem wir uns in Österreich nach Angelobung der Regierung Schüssel 2000 befanden. Wir besitzen gegenüber seiner Analyse 18 Jahre Vorsprung. Und damals haben wir genauso argumentiert wie er: Jede Aussage, die getroffen wird, ist von vornherein parteiisch.

Die Frage lautet aber auch: Was kann Engagement darüber hinaus bedeuten? Die Öffentlichkeit, innerhalb derer man agieren soll, wird von uns immer mitproduziert. Öffentlichkeit ist nicht einfach "da", sie wird hergestellt, auch durch Populisten. Engagiert sind Intellektuelle nicht etwa dann, wenn sie beginnen, sich wie Volkstribunen zu äußern. Was nottut, ist das Leisten von Begriffsarbeit. Die Zeiten sind so konfus, dass die alten Argumentationslinien komplett durcheinandergeraten sind. Es gilt, Verständnis aufzubringen, um Verständnis zu schaffen. Das ist wichtiger als jeder blinde Aktionismus. Es erschien mir in der Praxis immer so, dass es Transmissionsriemen braucht. Mitunter ist es notwendig, Wissen nicht nur herzustellen, sondern es auch für ein breiteres Publikum zu "übersetzen". Wir brauchen intellektuelle Figuren, gerade wenn das Umfeld schwächelt. Wahrheit besteht nie nur aus Inhalt, sondern aus der Glaubwürdigkeit und der Autorität der Stimmen, die sie verbreiten.

Doron Rabinovici (56) ist Wiener Autor und Aktivist.

Doron Rabinovici: "Wer sich nicht wehrt, versagt"

Ein Intellektueller ist, wem kraft seiner Autorität auf künstlerischem oder wissenschaftlichem Gebiet Raum in der Öffentlichkeit zugestanden wird, um jenseits der Macht zu sprechen. Der Nimbus des Intellektuellen stammt aus einer Zeit, da verfolgt werden konnte, wer sein Denken nicht der Obrigkeit beugte. In der pluralistischen Gesellschaft kann es indes zuweilen lächerlich wirken, wenn einer voll Pathos offene Türen einrennt. Wenn jedoch die liberale Demokratie in der Krise ist, wenn gegen kritische Qualitätsmedien, gegen Rechtsstaat und Verfassungsschutz vorgegangen wird, ist es an der Zeit, nicht zu schweigen. Vor unseren Augen werden jetzt die offene Gesellschaft und das friedlich vereinte Europa attackiert. Nicht nur die Intellektuellen, sondern alle Citoyens sind gefordert, dagegen die Stimme zu erheben. Die zivilgesellschaftlichen Bewegungen und die NGOs sind Kraftfelder der Widerständigkeit.

Die Intellektuellen haben gleichwohl ein besonderes Interesse, den Freiraum, der sie ausmacht, zu verteidigen. Diejenigen von ihnen, die gegen die autoritären Gefahren Protest einlegen, können dabei durchaus scheitern. Aber jene unter ihnen, die eine Aushöhlung der Freiheit nicht verurteilen und Apologeten der Willkür sind, geben sich selbst auf. Persönlich mögen sie durch ihr Kleinreden und ihre unverdrossene Gelassenheit reüssieren, als Intellektuelle versagen sie.

Robert Misik (52) ist u. a. politischer Essayist.
Foto: DANIEL NOVOTNY

Robert Misik: "Schafft drei, vier, viele Bölls"

Engagement des Intellektuellen kann ja nur Engagement auf der öffentlichen Bühne sein. Engagement, das nicht öffentlich auffällt, wäre keines, das den Intellektuellen braucht. Es müsste also auf der Bühne der Öffentlichkeit bestehen. Und dieses Engagement ist in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich verächtlich gemacht worden.

Das ist verbunden mit dem Aufstieg des Konzepts von "Cooleness". Das Wort zu erheben, um ein "J'accuse" herauszuschleudern, wurde als uncool gebrandmarkt. Cool dagegen war der Sound der Dauerironie. Der Ironiker steht nie für etwas ein, aber immer auf der sicheren Seite. Man erinnere sich nur an Figuren wie Heinrich Böll. Engagierte Intellektuelle, unkorrumpierbar, moralische Instanzen. Würde heute jemand dem nacheifern, würde er oder sie sofort dem Gelächter preisgegeben. Diese Form des Engagements des Intellektuellen versucht tendenziell, zu Mehrheiten zu sprechen. Sie ist keine Nischen-Intellektualität und auch keine, die nur in Nischen oder Sub-Milieus "engagiert" agiert.

Letzteres ist ja nie ausgestorben gewesen. Der Grund: Der oder die Intellektuelle, die in Submilieus, etwa im radikalen Kunstfeld, agiert, wird in diesem Sozialprestige gewinnen. Würde sie auf der "universalen Bühne" spielen, stünde sie sofort unter Mainstream-Verdacht und würde ihr Sozialprestige verlieren. Die Lage ist heute aber zu ernst für Spielchen. Intellektuelle müssen ihr kulturelles Kapital in die Waagschale werfen. Schafft drei, vier, viele Bölls.