Eine neue Statistik hat das Augenmerk auf das Thema Gewalt an Schulen gelenkt. Nicht zum ersten Mal. Aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass die Aufmerksamkeit bald wieder nachlassen wird. Vorfälle von Gewalt an Schulen stellen nur die Spitze des Eisbergs dar. Oft hat ein Gewaltausbruch eine längere Vorgeschichte, in der es auch um Mobbing geht. Eine Pisa-Sonderauswertung 2009 und andere Untersuchungen haben zutage gefördert, dass Mobbing an österreichischen Schulen weitverbreitet ist. Geschehen ist bisher nichts Wirksames. Dass man etwas dagegen unternehmen kann, beweisen andere Länder.

Mobbing hat weitreichende Folgen. Die dadurch herbeigeführten Verletzungen zerstören das Selbstbewusstsein der Betroffenen, beeinträchtigen ihre Leistungsfähigkeit massiv, machen nicht selten auch krank und wirken bei den meisten das ganze Leben nach. Über die zahlreichen Schulmassaker in den USA ist bekannt, dass die Täter häufig vorher an ihrer Schule gemobbt worden sind. Der Australier Paul Mullen, ein forensischer Psychiater, hat in einer Studie festgestellt, dass alle von ihm untersuchten Massenmörder in ihrer Kindheit schikaniert oder sozial ausgegrenzt worden sind.

Wer schon Probleme hat, bekommt noch welche dazu

Kinder und Jugendliche, die schon Probleme haben, bekommen nicht selten an unseren Schulen noch welche dazu. Eine gute Bekannte arbeitet an einem Hof für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Diese sollen dort auf die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes vorbereitet werden. Nach ihren Erfahrungen gibt es an diesem Hof kaum einen Jugendlichen, der nicht in der Schule gemobbt worden ist. Wehrlosigkeit, und das trifft wohl für die meisten dieser jungen Menschen zu, gebiert hier Gewalt. Ich habe als Lehrer Kinder mit 13 oder 14 Jahren kennengelernt, die mir erzählt haben, sie seien seit der ersten Volksschulklasse immer wieder gemobbt worden. Wir müssen uns fragen: Welche Art von Menschen produzieren unsere Schulen, und welche sollten sie produzieren?

Die Verantwortlichen für unser Schulsystem, vom Minister bis zu den einzelnen Lehrerinnen und Lehrern, hätten die Verpflichtung, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um denen zu helfen, die Hilfe brauchen. Wer das nicht macht, wird mitschuldig an den Verbrechen an unseren Kindern und Jugendlichen. "Nicht zu handeln ist Handeln", hat Dietrich Bonhoeffer festgestellt. Es ist die Unterlassung von möglicher Hilfeleistung. Das ist ein strafbarer Tatbestand. Wenn Hilfe ganz offensichtlich notwendig und zumutbar ist, aber nicht geleistet wird, kann bis zu einem halben Jahr Freiheitsstrafe verhängt werden.

Viele Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich sehr, das Wohlergehen ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern – nicht immer sind sie dabei erfolgreich.
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Erstes Ziel: Unversehrtheit erhalten!

Was ist zu tun? Die psychische und physische Unversehrtheit der Schülerinnen und Schüler in unseren Bildungseinrichtungen muss in den Mittelpunkt aller Bemühungen der Verantwortlichen gestellt werden. Sie ist zum ersten und wichtigsten Ziel überhaupt zu erklären. Nicht nur das. Schon das nächste Schuljahr könnte unter das Generalthema "Respekt" gestellt werden.

Viele Lehrerinnen und Lehrer bemühen sich sehr, das Wohlergehen ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern. Nicht immer sind sie dabei erfolgreich, wie Untersuchungen zeigen. Aber bei einem anderen Teil ist eine Veränderung in der Einstellung notwendig. Folgende Äußerungen von Lehrkräften sind in Konferenzzimmern durchaus auch heute noch manchmal zu hören, wenn es um Mobbing geht: "Zum Streiten gehören zwei." "Aber er/sie fordert durch sein/ihr Verhalten ja die Reaktionen der anderen heraus." "Ich habe Mathematik studiert und nicht Psychologie. Darum sollen sich andere kümmern." Zurückzuführen sind solche Haltungen zum Teil auf Gleichgültigkeit, zum Teil aber auch auf Ahnungslosigkeit in Bezug auf das Wesen und die Folgen von Mobbing.

Angebote reichen nicht

Im Hinblick auf Gewalt und Mobbing an den Schulen gibt es verschiedene Fortbildungs- und Hilfsangebote. Das reicht allerdings bei weitem nicht. Es muss zur ersten Lehrerpflicht erklärt werden, sich laufend und ausreichend um das Wohlbefinden der anvertrauten Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Und die Einhaltung dieser Verpflichtung muss regelmäßig überprüft werden. Nach jedem bekanntgewordenen Fall von Mobbing ist zu untersuchen, ob dies durch mangelnde Aufmerksamkeit von Lehrkräften mitverursacht worden ist. Natürlich müssen diese bei Bedarf unterstützt werden, zum Beispiel durch den Einsatz einer zweiten Lehrkraft in besonders schwierigen Phasen. Aber einfach wegzuschauen oder sich gar auf die Seite der Stärkeren – also der Mobber – zu stellen, was auch schon vorgekommen ist, das sollte es nicht mehr geben.

Den Anfängen wehren!

Auch im besten Schulsystem können nicht alle Probleme gelöst werden. Aber vieles könnte durch die richtige Vorgangsweise verbessert werden. Aus meiner Lehrererfahrung heraus möchte ich den Verantwortlichen zurufen: Wehret den Anfängen! Die Anfänge liegen im Kindergarten, spätestens aber in der ersten Klasse Volksschule. Alle Lehrer sollten von der ersten Stunde jedes Schuljahres an klarmachen, dass es in Bezug auf Gewalt, Mobbing und jede Form von Belästigung keine Toleranz gibt. Und es muss vor den Kindern und Jugendlichen gleich eindeutig festgestellt werden, dass auch Vorfälle, die nicht vor den Augen der Lehrkraft passieren – was bei Mobbing die Regel ist –, mit großer Wahrscheinlichkeit bekannt und sanktioniert werden.

Verhaltensvereinbarungen oder Klassenregeln sind heutzutage relativ weit verbreitet. Aber die Verletzung der Regeln hat oft kaum Auswirkungen. Dabei haben zahlreiche Experimente und Untersuchungen deutlich gezeigt, dass Gemeinschaften dann am besten funktionieren, wenn es klare Regeln gibt und das Missachten der Regeln geahndet wird. Ist dieser Sachverhalt einmal ausreichend bekannt, dann ist die Gefahr, dass Regeln verletzt werden, bereits deutlich reduziert. Dass man in einer solchen Situation auch ausführlich miteinander reden muss, ist selbstverständlich. Nur die weitgehende Gleichgültigkeit der Verantwortlichen bei kleinen Vergehen bewirkt das Zustandekommen von gröberen. "Zum großen Bösen kommen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen", hat Michael Köhlmeier festgestellt.

Methode "Wohlfühlbarometer"

Mobbing passiert in der Regel nicht vor den Augen der Lehrerinnen und Lehrer. Wie aber kommen diese rechtzeitig dahinter, wenn es zu den ersten Anfängen von Mobbing in den Pausen oder nach dem Unterricht kommt?

Ich habe als Lehrer sehr gute Erfahrungen gemacht mit einer Methode, die ich Wohlfühlbarometer genannt habe. Sie geht davon aus, dass Mobbingopfer oft lange nicht den Mut haben, sich mitzuteilen, ja oft glauben, irgendwie selbst an dem schuld zu sein, was ihnen angetan wird. Wenn sie allerdings Gelegenheit haben, in anonymer Form zunächst einmal in Form einer Note von 0 ("Es ist die Hölle!") bis 10 ("Ich fühle mich wie im Paradies!") ihr Befinden zum Ausdruck zu bringen, dann machen sie davon Gebrauch. Sie haben ja nichts zu befürchten.

Stellt die Lehrkraft dann fest, dass eine oder mehrere schlechte Benotungen gegeben worden sind, dann weiß sie, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Es ist dann nicht besonders schwer, durch bestimmte Vorgangsweisen die Gründe für die schlechten Benotungen festzustellen. Handelt es sich um Mobbing, ist umgehend eine Reihe von Maßnahmen zu ergreifen, die zum sofortigen Ende des Mobbinggeschehens führen müssen. Sie können hier nicht im Einzelnen angeführt werden. In der Folge ist es wichtig, dass der Eindruck von besonderer Aufmerksamkeit der Lehrerinnen und Lehrer bestehen bleibt. Das kann unter anderem durch zunächst tägliche, dann regelmäßige Befragungen vor allem der nicht unmittelbar involvierten Schülerinnen und Schüler erreicht werden. Das Wohlfühlbarometer sollte in einem nicht zu großen zeitlichen Abstand wiederholt werden. Die Durchführung dauert nicht länger als fünf Minuten. Oft habe ich erlebt, dass Schülerinnen oder Schüler, wenn sie diese Methode einmal kennengelernt haben, von sich aus mit dem Wunsch zu mir gekommen sind, das Wohlfühlbarometer wieder einmal durchzuführen.

"Beziehung schaffen"

Der Psychotherapeut und Frankl-Schüler Günter Funke hat einmal festgestellt: "Wer Bildung will, muss Beziehung schaffen." Die Sorge um das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler, wie sie zum Beispiel in der Durchführung des Wohlfühlbarometers zum Ausdruck kommt, ist eine hervorragende Möglichkeit, eine gute Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern herzustellen. Sie merken dadurch, dass sich die Lehrkraft nicht nur als Wissensvermittler sieht, sondern dass ihr auch das Wohlergehen der Anvertrauten wichtig ist.

Wir haben in der letzten Zeit von schrecklichen Missbrauchsfällen gehört, die vor Jahrzehnten in so vielen Heimen und Internaten vorgekommen sind. Nicht selten sind sie mit Wissen oder zumindest Ahnungen von anderen passiert. Heute können wir nicht verstehen, wie das möglich war, oft über Jahre hinweg, warum niemand eingegriffen hat. Wenn wir es nicht schaffen, das Mobbingproblem an unseren Schulen in den Griff zu bekommen, dann wird die Frage in einigen Jahrzehnten sein: Sie haben gewusst, dass Mobbing mit seinen dramatischen Folgen weit verbreitet ist – warum haben sie die Opfer im Stich gelassen? (Alois Floimayr, 2.7.2018)