Fleißaufgabe im Sand: Der palästinensische Künstler Osama Sbeata hat nach dem Sieg Tayyip Erdoğans bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen im Vormonat das Porträt des türkischen Staatschefs am Strand in Gaza gezeichnet. Erdoğan stellt nun die erste Regierung nach dem Wechsel zum Präsidialregime zusammen.

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İbrahim Kalın (links), Sprecher des türkischen Staatspräsidenten Erdogan und außenpolitischer Berater während dessen Zeit als Regierungschef, wird als möglicher neuer Außenminister gehandelt. Kalın begrüßte im Dezember vergangenen Jahres den venezolanischen Autokraten Nicolas Maduro in Istanbul – bei einem Gipfel der islamischen Länder.

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Der eine hatte keine Ahnung, wie er zu seinem Glück kam. Die andere war so schnell aus dem Amt, wie sie zuvor hineinbefördert worden war. Dem Dritten wurde ein Posten zugeschrieben, dessen Existenz bis dahin unbekannt war.

Wenige Tage sind es noch bis zur Vorstellung der ersten türkischen Regierung, die Tayyip Erdoğan als Staatschef in seinem neuen Präsidialsystem führen wird. Entsprechend wild kursieren Gerüchte über künftige Minister und Staatsrepräsentanten. Einen wahren Kern haben sie dennoch oft.

Neuer Superwirtschaftsminister

Daron Acemoğlu zum Beispiel, ein türkischstämmiger US-Ökonom, der am Massachusetts Institute of Technology in Boston unterrichtet, war dieser Tage von einer Pro-Erdoğan-Kolumnistin zum neuen Superwirtschaftsminister erklärt worden. Erdoğan wolle dem Professor die Führung der Wirtschaftspolitik anvertrauen, versicherte die Kolumnistin unter Verweis auf eine nicht namentlich genannte "glaubwürdige Quelle".

Das Problem: Daron Acemoğlu wusste von nichts, wie ein Kolumnistenkollege in derselben Zeitung – "Habertürk" – richtigstellte. Niemand aus Ankara habe mit Acemoğlu gesprochen. Vor allem aber war schwer vorstellbar, wie der liberale Ostküstenprofessor mit dem autoritären Staatschef zusammenarbeiten sollte.

Illustre Seiteneinsteiger

Andererseits aber hatte Acemoğlu schon einmal eine Anfrage aus Ankara erhalten. Ahmet Davutoğlu, der zwischen 2014 und 2016 die türkische Regierung führte, hatte ihm ein Amt angeboten; Acemoğlu schlug es aus. Und auch Tayyip Erdoğan ist dieses Mal angeblich offen für mehr oder minder illustre Seiteneinsteiger in seine erste Präsidialregierung. Im Kabinett könne es Personen "aus der Geschäftswelt, der Kultur und der Sportszene" geben, sagte Mahir Ünal, der Sprecher von Erdoğans konservativ-islamischer Partei AKP.

"Es könnten Leute sein, die im Ausland gelebt haben, aber sowohl die Welt wie auch die Türkei sehr gut kennen", fuhr Ünal fort. Wichtig sei nun, die Regierung des Staates in der Logik eines Managements auszubauen und "frei von politischen Gewichtungen".

Posten für die Nationalisten

Dies widerspricht der Auffassung einer ganzen Reihe anderer politischer Beobachter in der Türkei, die alle die neue Rolle der rechtsgerichteten Nationalistenpartei MHP zu taxieren versuchen. Erdoğan werde sicherlich Kabinettsposten an die MHP vergeben im Gegenzug für das Bündnis mit der Partei im Parlament. Devlet Bahçelis MHP verhilft dort der AKP zur absoluten Mehrheit.

Bahçeli selbst schloss aus, dass er selbst einen der beiden neuen Posten als Vizepräsident übernehmen werde. Dafür wurde diese Woche ausgerechnet Meral Akşener, die MHP-Dissidentin und gescheiterte Präsidentenkandidatin, zur möglichen Vizepräsidentin erklärt. AKP-Sprecher Ünal dementierte dies sogleich. Niemand im Führungsgremium der Partei habe einen solchen Vorschlag gemacht, versicherte er.

Die "Guten" abwerben

Vielleicht nicht diesen, aber etwas Ähnliches. Denn die Einbindung von Akşeners Guter Partei (İyi Parti) oder die Abwerbung einer Handvoll ihrer Abgeordneten im Parlament gilt sehr wohl als taktisches Ziel Erdoğans und seiner AKP. Der fehlen nur sechs Sitze, um allein die absolute Mehrheit im Parlament zu halten. Und politisch besser wäre es für Erdoğan allemal, beide Nationalistenparteien – die alte MHP und die neue IYI – zu umarmen, um Wähler zu sammeln und die Opposition zu schwächen.

Angekündigt hat Erdoğan bereits die Verkleinerung der Regierung auf 16 Ministerien. So werden das Außen- und das Europaministerium zusammengelegt; statt sechs Ministerien, die bisher mit Wirtschaftspolitik befasst sind, soll es nur noch drei geben. Mehmet Şimşek, der bisherige Vizepremier und zuständig für die Wirtschaft, gilt trotz kolportierter Amtsmüdigkeit und der unübersehbaren Differenzen mit Erdoğan weiter als Anwärter auf einen Ministerposten für dieses Ressort in der neuen Regierung. Şimşek ist das freundliche, ausländische Investoren beruhigende Gesicht in der türkischen Führung.

Inflation auf Rekordniveau

Mehr Kapital aus dem Ausland braucht die türkische Wirtschaft jedenfalls – und dies sehr schnell. Die Lira bleibt schwach, die Inflation stand im Juni bei 15,39 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat: ein Rekord seit der Bankenkrise von 2000.

Spekulationen gibt es auch wieder über Hakan Fidan, den Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, und İbrahim Kalın, den Sprecher des Präsidenten. Beide waren schon in der Vergangenheit als Schwergewichte für das Amt des Außenministers gehandelt worden. Dieses Mal ist es nicht anders, wie die regierungsunabhängige Zeitung "Cumhuriyet" in Erfahrung gebracht haben will.

Großkoordinator Kalın

Der amtierende Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu scheidet normalerweise aus, da er nun ein Abgeordnetenmandat hat. Ömer Çelik, der bisherige Europaminister, soll demnach nicht das größere Ressort erhalten. Fidan und Kalın wären die Favoriten, wobei Kalın alternativ auch den Posten eines "devlet sekreteri", eines Staatssekretärs im Präsidentenpalast, übernehmen könnte, der die Außenpolitik koordiniere. Einen solchen Posten sucht man allerdings vergeblich im neuen Organigramm des Systems Erdoğan, mit dem der Staatschef kurz vor der Wahl am 24. Juni an die Öffentlichkeit gegangen war.

Kalın gilt im Palast als Vertreter des realpolitischen Lagers und Kontrahent von Erdoğans Schwiegersohn und dem amtierenden Energieminister Berat Albayrak. Der versucht sich bereits als Nachfolger des Staatschefs aufzubauen.

Keine Anhörung nötig

Erdoğans Minister haben gemäß der neuen Präsidialverfassung nicht mehr viel mit dem Parlament zu schaffen. Sie müssen sich keiner Anhörung stellen, bevor sie ihr Amt übernehmen. Rechenschaftspflicht und Fragen im Parlamentsplenum gibt es auch nicht für sie. Erdoğan wählt sie aus und entlässt sie auch wieder.

Neben seiner Regierung stellt sich Erdoğan auch neun Ratsgremien ("kurul") und vier neugeschaffene Büros ("ofis") zusammen. Sie decken Politikfelder und staatliche Verwaltungsbereiche ab, sollen offenbar als Inputgeber der Ministerien dienen, vor allem aber die türkische Bürokratie an ihrer Spitze umbauen und direkt dem Präsidenten unterstellen.

Der Fahrplan

Erdoğan soll am kommenden Sonntag seinen Amtseid als Präsident im Parlament ableisten. Am selben Tag werden auch die neugewählten 600 Abgeordnete angelobt. Seine Regierung präsentiert der türkische Staatspräsident dann möglicherweise am Montag, und noch bevor er zum Nato-Gipfel am 11. und 12. Juli nach Brüssel reist.

Erdoğans bisheriger Regierungschef Binali Yıldırım – sein Amt ist mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung abgeschafft – soll neuer Parlamentspräsident werden. Die Wahl ist für den 18. oder 19. Juli vorgesehen. Angeblich wäre er auch gern Vizepräsident neben Erdoğan geworden. Aber das ist wieder nur ein Gerücht. (Markus Bernath, 3.7.2018)