London – Die britische Premierministerin Theresa May wird nach Informationen des Senders ITV ihrem Kabinett den "möglichst sanften Brexit" vorschlagen. Der Plan sehe vor, dass Großbritannien auch nach einem EU-Austritt weiterhin die Importzölle für die EU einnimmt, schrieb der ITV-Journalist Robert Peston in einem Beitrag auf Facebook.

Dadurch würde verhindert, dass es zu Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland komme. Ein Regierungsvertreter lehnte eine Stellungnahme zu dem Bericht vor der für Freitag geplanten Kabinettsklausur zum Brexit ab. Dann will May ihr Vorhaben den Ministern präsentieren. Zwei frühere Pläne fanden in ihrer Konservativen Partei keine Mehrheit.

May werde der EU auch Vorrechte für ihre Bürger anbieten, die in Großbritannien leben und arbeiten wollten, hieß es in dem Bericht weiter. Im Gegenzug solle Großbritannien der Zugang zum Dienstleistungsmarkt der EU erleichtert werden. Zum Austritt Großbritanniens aus der EU soll es Ende März kommenden Jahres kommen.

Viele Briten mit Vorgehen der Regierung unzufrieden

Immer wieder haben EU-Vertreter London angesichts des knappen Zeitplans zur Eile gemahnt – doch auch in Großbritannien selbst zeigen sich viele mit dem Vorgehen der Regierung unzufrieden.

Erst im Juni ergaben Umfragen des Meinungsforschungsinstituts YouGov mehrheitlich negative Bewertungen für die Verhandlungsführung Londons unter Premierministerin Theresa May: In der aktuellsten veröffentlichten Befragung vom 20. Juni äußerten 34 Prozent die Ansicht, dass die Regierung den Brexit "sehr schlecht" verhandle, 33 Prozent nannten das Vorgehen "ziemlich schlecht", 19 Prozent "ziemlich gut" und nur ein Prozent "sehr gut". Auch in den drei anderen YouGov-Umfragen im selben Monat stellten jeweils mindestens 62 Prozent der Befragten der Regierung auf dieselbe Frage hin kein positives Zeugnis aus, und höchstens zwei Prozent befanden, dass sich London in den Brexit-Verhandlungen "sehr gut" anstelle.

Viele Briten erwarten laut Ende Juni veröffentlichten Daten des Instituts Ipsos MORI außerdem nicht, dass May einen "guten Deal" für Großbritannien herausverhandeln wird: Nur einer von drei Befragten (30 Prozent) brachte diesbezüglich Vertrauen in die Regierungschefin zum Ausdruck, während 67 Prozent angaben, sie seien nicht sehr oder überhaupt nicht überzeugt davon.

Regierung wickle Brexit nicht gut ab

"Im Grunde sind die meisten Menschen der Ansicht, dass die Regierung den Brexit nicht gut abwickelt", sagte auch der Politik-Analyst Roger Mortimore jüngst zur APA. Das gelte sowohl für Brexit-Gegner als auch für Austrittsbefürworter: "Auch die, die für den Brexit sind, haben nicht das Gefühl, dass es so gut läuft, wie es laufen sollte." Wobei manche von ihnen wohl der Ansicht seien, dass May zwar ihr Bestes gebe, der Aufgabe aber nicht gewachsen sei, und andere meinten, dass sie "Teil eines größeren Plans ist zu verhindern, dass der Brexit wirklich passiert" und nicht nur auf dem Papier, so der Experte von Ipsos MORI, der am Londoner King's College lehrt.

"Ich glaube, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass viele Leute unglücklich sind, da ist fast ein Hauch von Verzweiflung", doch die meisten Brexit-Befürworter hielten immer noch "verbissen" daran fest, den EU-Austritt prinzipiell zu unterstützen, "auch wenn es unangenehm oder schmerzhaft wird". Die andere Hälfte der Bevölkerung – "und wir waren ja fast 50-50 gespalten" – sehe sich durch all die Komplikationen in ihren Vorhersagen bestätigt, "dass der Brexit immer eine schlechte Idee war und die Leute das erkennen und nicht dafür stimmen hätten sollen".

Kein massiver Meinungsumschwung

Mortimore sieht nach wie vor keinen massiven Meinungsumschwung in der britischen Bevölkerung, was den Austritt an sich betrifft: "Es gibt keine solide Mehrheit gegen den Brexit." Man müsse sich in Erinnerung rufen, dass die meisten Menschen, die im Juni 2016 für den Brexit votiert hätten, das nicht aus einer "politischen Kalkulation" heraus getan hätten, betont der Professor.

"Sie haben das nicht getan, damit es ihnen besser geht, ungeachtet der ganzen Aufregung darüber, wie viele Millionen wir stattdessen für das Gesundheitssystem (NHS) ausgeben werden. Das war es nicht wirklich, was die meisten Menschen motiviert hat, die für den Brexit gestimmt haben. Es war vielmehr eine Sache des Prinzips und des Bauchgefühls", es sei um Nationalismus gegangen, "ein Gefühl, dass Großbritannien separat von Europa ist und sein sollte", um Einwanderung und genereller um Fragen nationaler Identität. "Und die meisten dieser Erwägungen werden sich nicht ändern, wenn sich die politischen Details verändern."

Wenn die Leute auf Basis ihrer Werte entschieden hätten "und es dann schiefgeht und sie beginnen zu realisieren, dass der Brexit schmerzhafter wird als sie dachten, dann ist die Reaktion nicht, zu denken, ich habe mich verkalkuliert, jetzt unterstütze ich den Brexit nicht mehr. Sie ist vielmehr, entweder zu sagen, es gefällt mir zwar nicht, aber ich muss es hinnehmen, denn das ist es, woran ich glaube, oder sich umzuschauen, wen man dafür verantwortlich machen kann, dass es schwieriger ist, als es sein sollte." Und beschuldigt würden dann wohl die Politiker sowohl in London als auch in Brüssel, meint Mortimore.

Darauf deuten auch aktuelle Daten von Ipsos MORI hin: Auf die Frage, wer dafür verantwortlich wäre, wenn in den Brexit-Verhandlungen kein Abkommen erzielt werden sollte, gab rund die Hälfte (49 Prozent) der Befragten der britischen Regierung und der EU gleichermaßen die Schuld. 30 Prozent meinten in der Ende Juni veröffentlichten Umfrage, dafür wäre hauptsächlich die Regierung in London verantwortlich, 18 Prozent die EU.

Kanzler Kurz besucht Dublin und London

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bricht am Sonntag zu einer Reise nach Irland und Großbritannien auf, im Rahmen derer er auch seine Amtskollegen Leo Varadkar und Theresa May treffen wird. Inhaltlicher Schwerpunkt des Besuchs in Dublin und London ist der Brexit. Zudem nimmt der Bundeskanzler laut seinem Büro am Dienstag an einer Westbalkan-Konferenz teil.

Am Sonntagabend will Kurz mit dem irischen Premierminister Varadkar Gespräche führen. Das Treffen mit May ist für den späten Montagnachmittag geplant.

Der Brexit sei "eines der wichtigsten Themen, das uns während unseres Ratsvorsitzes beschäftigen wird", bekräftigte Kurz im Vorfeld der Reise nach Angaben des Bundeskanzleramtes. "Wichtig ist, dass die EU in dieser Frage weiterhin geeint auftritt und Chefverhandler Michel Barnier unterstützt." Es müsse alles daran gesetzt werden, "einen harten Brexit zu vermeiden", denn dieser würde "zu chaotischen Zuständen führen, unter denen beide Seiten leiden würden", so der Bundeskanzler.

"Auch die irische Frage muss im Zuge dessen gelöst werden zur Vermeidung von möglichen Spannungen in Nordirland", worüber er mit Varadkar und May sprechen werde, sagte Kurz. "Ich hoffe, wir werden im Zuge der Reise mehr Klarheit haben über die Vorstellungen Londons über die Modalitäten eines Austritts und das zukünftige Verhältnis mit der EU." Gemeinsames Ziel müsse es sein, "dass es weiterhin eine solide Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gibt, etwa im Wirtschaftsbereich oder in Fragen der Sicherheit und Verteidigung".

Unter österreichischer EU-Ratspräsidentschaft

Die Brexit-Verhandlungen treten unter österreichischer EU-Ratspräsidentschaft in diesem Halbjahr in die heiße Phase. Bis Herbst soll der Austrittsvertrag mit Großbritannien fertig verhandelt sein, damit er zeitgerecht von beiden Seiten ratifiziert werden kann. Großbritannien soll bereits am 29. März 2019 aus der Europäischen Union ausscheiden.

Die Zeit drängt also, wie Ende vergangener Woche erst EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Brexit-Chefunterhändler Barnier erneut unterstrichen haben. Barnier warnte am Freitag, dass die Zeit knapp werde, Tusk sprach am Rande des EU-Gipfels laut Reuters von einem letzten Aufruf, "die Karten auf den Tisch zu legen". Die Staats- und Regierungschefs der EU-27 zeigten sich zugleich skeptisch über die bisher erzielten Fortschritte in Sachen Austrittsabkommen und forderten von Großbritannien realisierbare Vorschläge.

Die britische Zeitung "The Independent" berichtete am Sonntag unter Berufung auf Insider, die EU-Staats- und Regierungschefs hätten inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass bis zu ihrem nächsten Gipfel im Oktober eine Vereinbarung mit London erreicht werde. So ist es bisher auf beiden Seiten geplant.

May steht unter Druck

May steht innenpolitisch angesichts unterschiedlicher Vorstellungen zum EU-Austritt in ihrem Kabinett und in ihrer Konservativen Partei massiv unter Druck. Am Freitag kommen die Mitglieder der britischen Regierung zu einer Sondersitzung auf dem Landsitz Chequers zusammen, bei der es auch um Handel und Zölle gehen soll. Es gibt Spekulationen, dass es dabei zu einem Showdown zwischen May und Brexit-Hardlinern in ihrem Kabinett kommen könnte. Nächste Woche soll ein Weißbuch mit detaillierten Plänen für die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU vorgelegt werden.

Nach Ankündigungen Mays soll Großbritannien sowohl den Binnenmarkt als auch die Zollunion verlassen. Das Kabinett ist in mehreren Fragen zum Brexit gespalten. Bei den Zöllen gibt es derzeit zwei gegensätzliche Modelle: jenes der "maximum facilitation" oder "max fac" ("maximale Erleichterung"), bei dem Grenzkontrollen unter anderem durch technologische Vorkehrungen vermieden werden sollen, sowie das Modell einer Zollpartnerschaft. Beides gilt als umstritten. Nach Berichten der BBC haben britische Beamte zuletzt ein drittes Modell erarbeitet. Näheres dazu wurde zunächst nicht öffentlich bekannt, es werde jedoch Thema bei den Unterredungen der Minister am Freitag sein, so der britische Sender.

Teilnahme an Westbalkan-Konferenz in London

Bundeskanzler Kurz will am Dienstag in London zudem an einer Westbalkan-Konferenz im Rahmen des "Berlin-Prozesses" teilnehmen. Der "Berlin-Prozess" wurde von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 ins Leben gerufen, um den Westbalkan-Staaten ein positives Signal hinsichtlich der Erweiterungsperspektive zu senden. Nach dem ersten Westbalkan-Gipfel in Berlin (2014) fanden Treffen in Wien (2015) sowie in Paris (2016) und zuletzt 2017 in Triest statt.

Die Annäherung der Westbalkan-Staaten an die EU sei "eine sehr wichtige Priorität unseres Ratsvorsitzes und liegt in unserem ureigensten Interesse", hielt Kurz vor der Reise fest. Gerade die Aussicht auf Beitrittsverhandlungen mit der EU und einen möglichen Beitritt biete "den notwendigen Anreiz für Reformen, den Kampf gegen Korruption sowie die Aussöhnung unter den Staaten des Westbalkans".

Die europäische Perspektive sei zuletzt auch beim Westbalkan-Gipfel in Sofia im Mai unter bulgarischem Ratsvorsitz bekräftigt worden. "Wenn die EU hier ein Vakuum hinterlässt, wird dieses von anderen Staaten wie der Türkei gefüllt. Dies kann und darf nicht in unserem Interesse sein. In diesem Sinne werden wir die wichtige Arbeit des bulgarischen Vorsitzes mit Nachdruck vorantreiben", so der Bundeskanzler. Die EU werde erst dann vollständig sein, "wenn auch alle Staaten des Westbalkans Mitglieder geworden sind". Der Gipfel im Rahmen des "Berlin-Prozesses" diene dazu, "die Westbalkan-Staaten bei ihren Reformen zu unterstützen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, etwa in Bereichen wie Verkehr oder Energie, zu fördern". (red, APA, 4.7.2018)