Solange die EU keine stärkere Legitimation in der Bevölkerung hat, bleibt sie gefangen im Hyperkonsens.

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Jedes politische System, das nicht auf Repression aufbaut, stützt sich darauf, dass es von seinen Bürgern als legitim anerkannt wird. Das heißt, selbst wenn man die aktuelle Regierung und ihre Politik abscheulich findet, hinterfragt man deswegen nicht das System selbst, sondern versucht Veränderung innerhalb des Systems herbeizuführen.

Wann immer politische Systeme nur geringe Legitimität genießen, schlägt Gegnerschaft zur Regierung schnell in Gegnerschaft zum System an sich um. Deswegen müssen schwach legitimierte Systeme auf breiten politischen Konsens setzen, um dauerhaft überleben zu können.

Das war etwa in Österreich nach 1945 so. Um den wenig geliebten Staat mit seinen verfeindeten politischen Lagern (die einander wechselseitig unterstellen, die Demokratie abschaffen zu wollen) nicht zu gefährden, wurden große Koalitionen geschmiedet. Der altbekannte Proporz – für jeden roten Generaldirektor einen schwarzen Stellvertreter und umgekehrt – diente ebenfalls dazu, dass die beiden Großparteien einander wechselseitig auf die Finger schauen zu können. Ein anderes Beispiel ist die Proporzregierung Nordirlands, die seit dem Karfreitagsabkommen 1998 dort die Repräsentation aller großen Parteien in der Exekutive sicherstellt.

Ein Legitimitätsproblem hat auch die Europäische Union. Laut dem jüngsten Eurobarometer vom März 2018 vertrauen 42 Prozent der EU-Bürger der Europäischen Union, 40 Prozent haben ein positives Bild von ihr, und 45 Prozent meinen, ihre Stimme zähle in der EU. Zugegeben, in vielen Mitgliedstaaten haben die nationalen Regierungen nicht viel bessere Werte – aber dabei handelt es sich eben um abwählbare Akteure, während "die Europäische Union" das politische System selbst ist.

Da sich die europäischen politischen Eliten dieses Legitimitätsproblems durchaus bewusst sind, werden Entscheidungen oft nur dann getroffen, wenn es breiten Konsens unter den Mitgliedstaaten gibt. Am deutlichsten sichtbar wird das im EU-Ministerrat, der gemeinsam mit dem Europäischen Parlament auf Basis von Kommissionsvorschlägen die EU-Gesetzgebung stellt.

Die Grafik zeigt für einige Mitgliedstaaten den Anteil der Gegenstimmen und Enthaltungen bei den 267 Abstimmungen im Ministerrat seit Anfang 2015 (alle nicht gezeigten Länder haben Werte unter zwei Prozent). Am meisten Nichtzustimmung gibt es – wenig überraschend – vonseiten Großbritanniens. In rund einer von sechs Abstimmungen geht die britische Regierung nicht mit der Mehrheit mit. An zweiter Stelle kommt schon Österreich, danach folgen Polen und Ungarn. Wesentlich ist aber, dass selbst diese Länder extrem hohe Zustimmungsraten von weit über 90 Prozent aufweisen.

Als Folge dieses Verhaltens fallen rund 80 Prozent aller Abstimmungen im EU-Ministerrat einstimmig aus. Dafür gibt es auch Gründe, die nicht unmittelbar mit dem Legitimitätsproblem der EU zu tun haben (siehe etwa hier). Dennoch bleibt eine wichtige Erklärung, dass die Norm der möglichst großen Mehrheit noch immer Bestand hat – selbst wenn im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union das Prinzip der doppelten Mehrheit (55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung stellen) viel knappere Entscheidungen zuließe.

Jetzt ist der Wunsch nach Konsens per se kein Übel, er kann aber dazu führen, dass Entscheidungen, für die es nur knappe Mehrheiten gibt, gar nicht erst getroffen werden. Außerdem bedingt das Streben nach möglichst breiten Mehrheiten, dass es oft darum geht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den nationalen Regierungen zu finden. Beides ist weder der Qualität noch der Effizienz des politischen Handelns in der Europäischen Union zuträglich. Aber solange die EU keine stärkere Legitimation in der Bevölkerung hat, bleibt sie gefangen im Hyperkonsens. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 4.7.2018)