Wien – Bücher können so viel: Unterhalten, bilden, Wissen vermitteln, zum Lachen bringen, zum Nachdenken oder Weinen, zum Mitfühlen oder Staunen. Sie können dem Leben und seinen Zumutungen glückstrunkene Momente abtrotzen oder den Vorschein auf ein anderes Leben – besser, heller, gerechter, leichter, schöner, wilder, unkontrollierter, freier, was immer – entgegenhalten, Stellvertreterleben anbieten zum zeitweiligen Ausstieg aus dem Alltag. Bücher können wichtige Lebensbegleiter sein, weitergereicht als besondere Zueignung an Menschen, denen das Wunder dieser Lektüre auch zuteil werden soll. Ja, Bücher können glücklich machen!

Wir haben zehn Persönlichkeiten aus Literatur, Philosophie, Sport, Wissenschaft, Musik, Kunst und Politik um Bücher gebeten, die unbedingt auch im nächsten Jahrhundert gelesen werden sollten. Zehn Jahrhundertbuchtipps also, so vielfältig wie die Menschen, die Lesenden dahinter, die sie empfehlen.

Bleibt nur noch eines zu sagen: Lesen Sie, jetzt oder später, aber lesen Sie! Schönen Sommer! (Lisa Nimmervoll, 7.7.2018)

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Elfriede Jelinek, Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin.
Foto: REUTERS/Leonhard Foeger

Elfriede Jelinek: Es ist alles da

Ich verlange, dass die Werke Elfriede Gerstls die nächsten hundert Jahre (und noch viel länger) gelesen werden. Das ist eine Stimme in der österreichischen Literatur, die nie verstummen darf (obwohl oder gerade weil die Nazis sich viel Mühe damit gegeben haben, sie als Person verschwinden, auslöschen zu lassen). Diese gellende Leichtigkeit, diese zarten, aber durchdringend leisen Gedanken (ihre Essays sind immer noch viel zu wenig bekannt) dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Ja, das fordere ich. So wie diese Literatur einen fordert, doch ohne dass man es allzu deutlich merkt, denn da schreit niemand Hier!, Elfriede Gerstl schon gar nicht, es ist aber alles da. (Elfriede Jelinek)

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Toni Innauer, Autor, Vortragender und Berater, ehemaliger Skispringer und -trainer sowie ÖSV-Sportdirektor.
Foto: Roland Mühlanger / picturedesk.com

Toni Innauer: Unsere zweite Natur

Konrad Lorenz analysiert in Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens Geist und Kultur, erörtert die Voraussetzungen menschlichen Erkennens und mahnt, dass es gefährlich ist, alles für wahr zu halten, was auf den ersten Blick einleuchtend erscheint. Unser "zur zweiten Natur" gewordener Wahrnehmungsapparat ist aus einer gigantischen Menge an Informationen aus dem jeweiligen Kulturkreis geformt und alles andere als objektiv. Lorenz' Kernaussagen haben im digitalen Zeitalter keinen Deut an Brisanz verloren. (Toni Innauer)

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Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek.
Foto: karl schöndorfer toppress

Johanna Rachinger: Vermächtnis mit Weitblick

Stefan Zweigs Erinnerungsbuch Die Welt von gestern entstand vor seinem Selbstmord 1942 im brasilianischen Exil. Es ist das Vermächtnis eines glühenden Europäers, der von den massiven Umbrüchen in Europa zwischen 1890 und 1940 erzählt. Das Buch wird auch noch in 100 Jahren durch seine literarische Qualität und seinen Weitblick beeindrucken. (Johanna Rachinger)

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Manfried Rauchensteiner, Historiker, publizierte zuletzt "Unter Beobachtung. Österreich 1918-2018".
Foto: heribert corn

Manfried Rauchensteiner: Alte Verbrechen, neue Zeit

Es kommt alles vor, was in einen guten Kriminalroman gehört: Alex Beers Der zweite Reiter handelt in den Jahren 1919 und 1920. Der Erste Weltkrieg wirkt nach. Die Personen, vor allem der Rayoninspektor August Emmerich, sind vom Krieg gezeichnet. Emmerich hat aber nicht nur mit der Aufklärung von alten Verbrechen in einer neuen Zeit zu tun, er muss auch gegen eine Wirklichkeit ankämpfen, die noch nicht die seine ist, wo es um Beamtenwillkür, Schleichhandel, Bestechung und der Sehnsucht nach einer besseren Zukunft geht. Fortsetzung folgt. Da es nicht nur eine spannende Erzählung ist, sondern auch die Details stimmen, ist das Buch ein Lesevergnügen, nicht zuletzt für historisch Interessierte. (Manfried Rauchensteiner)

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Lisz Hirn, Philosophin und Lehrende am Universitätslehrgang "Philosophische Praxis" der Universität Wien.
Foto: nikolai friedrich

Lisz Hirn: Einführung in die "geistige Fechtkunst"

"Wer wagt mir zu widersprechen, wenn ich sage, die Menschen sind wesentlich böse, wesentlich unglücklich, wesentlich töricht?" Man muss dem Autor des schmalen Klassikers der Eristik nicht zustimmen, um die Kunstgriffe seines Buches zu schätzen. Schopenhauers "Die Kunst, recht zu behalten" will den Leser gegen die alltäglichen Untergriffigkeiten wappnen, die sowohl in analogen als auch digitalen Gesprächen lauern. Eine boshafte Trickkiste, die zeitlos auf die menschliche Natur anwendbar ist. (Lisz Hirn)

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Paulus Hochgatterer, Schriftsteller und Kinderpsychiater.
Foto: heribert corn

Paulus Hochgatterer: Ans Herz binden

Es gibt schmale Bücher, die möchte man sich ans Herz binden. Die Erzählung Das dritte Licht (im englischen Original Foster) der irischen Schriftstellerin Claire Keegan ist so ein Buch. Es erzählt auf gerade einmal hundert Seiten in einer wunderbar schlichten Sprache die Geschichte eines kleinen Mädchens, das von seinen Eltern den Sommer über zu einem bekannten Paar in Pflege gegeben wird. Dort erfährt es die wichtigen Dinge: dass Liebe und Traurigkeit ganz nahe beisammenliegen, dass es den Tod gibt und dass man manchmal vielleicht doch auf das Gute hoffen darf. (Paulus Hochgatterer)

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Yasmin Hafedh aka Yasmo macht Spoken Word Performances als Slam-Poetin und ist Rapmusikerin.
Foto: robert newald

Yasmin Hafedh: Leichtes Schweres

Hundert Schwarze Nähmaschinen von Elias Hirschl: ein Roman, der mit einer Leichtigkeit und Verspieltheit an psychische Krankheiten herangeht, sodass man eine Freude beim Lesen hat. Nie ist es vorwurfsvoll, nie dogmatisch oder respektlos Erkrankten gegenüber. Der ganze Roman hat auch sprachlich einiges zu bieten und spielt mit verschiedensten Textsorten. Ich habe den Roman gebannt gelesen und denke, dass man ihn auch noch in 100 Jahren lesen wird, weil das Thema "psychische Erkrankungen" in einer immer kranker werdenden Gesellschaft sicher noch lange aufgearbeitet werden muss, wir sind 2018 ja erst am Anfang. (Yasmin Hafedh)

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Lotte Tobisch-Labotýn, ehemalige Burgschauspielerin.
Foto: heribert corn

Lotte Tobisch-Labotýn: Zeitlos unveränderbar

Ich lese alles von Handke über Houellebecq bis Lévi-Strauss, von Adorno bis Heidegger, aber auch Madame Bovary. Sollte man mich auf die berühmte einsame Insel verfrachten, dann weiß ich allerdings, welches Buch ich mitnehmen würde: die Bibel, denn sie ist zeitlos, ein Paradebuch – sie beginnt mit Kain und Abel, dem Brudermord ... Da steht alles drin. Das wusste schon Karl Marx. Der sagte nämlich einmal: "Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen." (Lotte Tobisch-Labotýn)

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Künstlergruppe Gelatin, bestehend aus Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban.
Foto: jason schmidt

Gelatin: Make Trouble!

Ja, ganz genau: Make Trouble von John Waters ist das Buch zum Einpacken für die nächsten hundert Jahre. Ein kleines Büchlein, an dem man nicht schwer trägt, das sich allerdings immer wieder zum Reinlesen empfiehlt. Die Abschrift einer Rede von Waters vor Studierenden der Rhode Island School of Design gibt inspirierenden Rat für alle, die auf der Suche nach einem Weg sind. Und auch für alle, die schon am Wegesrand eingeschlafen sind. Also lesen und: Make Trouble! (Gelatin)

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Heinz Fischer, Bundespräsident a. D. und Regierungskoordinator des Jubiläums- und Gedenkjahrs 2018.
Foto: apa/herbert pfarrhofer

Heinz Fischer: Heikles und Gemeinsames

Zum Republiksjubiläum haben wir das Buch 100 Jahre Republik – Meilensteine und Wendepunkte in Österreich 1918-2018 herausgegeben, in dem 24 Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Schwerpunkten Meilensteine und Wendepunkte in der Geschichte unseres Landes seit 1918 beschreiben. Dabei wird sichtbar, dass zu den heiklen Phasen dieser Geschichte immer mehr gemeinsame Auffassungen erarbeitet wurden. (Heinz Fischer)