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Flüchtlinge vom Rettungsschiff "Lifeline". Viele Staaten weigern sich mittlerweile, flüchtende Menschen aufzunhemen.

Foto: REUTERS

Humanitär handeln? Wenn es nach Regierung und anderen Stopp-der-Migration-Rufern geht: nur für ausgewählte Gruppen von Menschen. Für alle anderen Menschen – ja, das sind alles Menschen, auch wenn sie als "Flut" bezeichnet werden – gilt jedoch: selbst schuld. Selbst schuld, wenn sie im Mittelmeer ertrinken; selbst schuld, wenn sie auf dem Weg durch die Wüste verdursten; selbst schuld, wenn sie in einem Land geboren wurden, in dem die Hoffnungslosigkeit blüht, in dem sie kaum Überlebenschancen haben.

Zahlreiche Leserbriefe, Forenbeiträge und Social-Media-Posts unter Titeln wie "Keine ungebremste Migration mehr" verleihen der aktuellen Regierungspolitik ein konkretes Gesicht. Darin steht dann etwa, Wirtschaftsmigranten in seeuntauglichen Booten würden mit ihren Fahrten über das Mittelmeer europäische Humanität erpressen und damit Zutritt auf europäischen Boden erzwingen. Das ist ein plakatives Beispiel, wie es gelingt, durch rohe Sprache und rohe Politik Menschen roh werden zu lassen.

Humanität, abhängig vom Zufall des Geburtsorts

Europäische Humanität erpressen – geht das überhaupt? Was ist das Spezielle an europäischer Humanität? Wie unterscheidet sich diese von Humanität an sich? Gibt es demzufolge auch afrikanische, asiatische, amerikanische Humanität? Das würde bedeuten, ich könnte es mir aussuchen, ob ich humanitär sein wollte oder nicht. Und auch, auf welche Weise, in welcher Ausprägung ich humanitär sein will: europäisch, afrikanisch, amerikanisch oder gar antarktisch humanitär. Weiters würde mir eine solche Differenzierung ermöglichen, wem gegenüber ich mich humanitär verhalte und wem nicht.

Aber solche Unterscheidung widerspräche den universal gültigen und unteilbaren Menschenrechten. Dem Grundsatz, dass alle Menschen, egal wo der Zufall sie zur Welt hat kommen lassen, mit den gleichen Rechten geboren sind. Dass ihre Würde unteilbar ist. Eine solche Unterscheidung würde bedeuten, dass Humanität – Menschlichkeit – diesen gegenüber gezeigt werden kann, jenen gegenüber aber nicht. Dass es also Menschen gibt, die mehr wert sind als andere. Oder vielleicht sogar, dass diese Menschen sind, jene aber nicht. Warum? Weil diese zufällig in ein Umfeld geboren wurden, das sie mit Chancenreichtum, mit Privilegien, mit einem sicheren Sozialsystem ausgestattet hat? Und jene in ein Umfeld, das sie tagtäglich ob ihres Überlebenskampfes verzweifeln lässt, ihnen jede Zukunftsperspektive raubt?

Zutiefst menschlich: der Wunsch nach einem guten Leben

Die Forderung, ungebremste Migration zu stoppen (im Übrigen behaupten doch die Herren Kurz, Strache, Kickl, Seehofer, Orbán und wie sie alle heißen, diverse Fluchtrouten schon längst geschlossen und also Migration gebremst zu haben); die Forderung, sich nicht "humanitär" erpressen zu lassen; die Forderung, die Reißleine zu ziehen – diese Forderungen sind zutiefst unmenschlich. Sie verurteilen Menschen ob ihrer Herkunft. Sie verurteilen Menschen, die etwas zutiefst Menschliches wollen: ein gutes Leben für sich und ihre Familien. Wer sind wir, ihnen dieses menschlichste aller Verlangen abzusprechen, nur weil wir zufällig in eine Situation, in ein Umfeld geboren wurden, das es uns relativ einfach macht, ein solches gutes Leben zu leben?

Menschlichkeit wird diskreditiert

Ja, es ist nicht einfach, Humanität immer und überall zu leben. Es ist eine große, eine riesige, eine gewaltige Herausforderung, die mit unendlich viel Anstrengung verbunden ist. Aber um das Wie geht es den Routenschließern und Stopp-Rufern nicht. Es geht ihnen vielmehr um die Aushöhlung, die Diskreditierung des Prinzips Menschlichkeit. Damit sie guten Gewissens Grenzen schließen und Hilfe versagen können.

Ich bekomme Angst ob der zunehmenden Lautstärke und Vehemenz, mit der solch fundamentales Unrecht (nicht juristisch gemeint: Sklaverei war ja auch lange Zeit legal) verlangt wird – denn wo endet die Willkür der Einteilung in diese und jene? In diese mit (Menschen-)Rechten und Privilegien, Chancen und Hoffnungen, in jene ohne? Wo enden die Forderungen nach noch mehr Schärfe und Ausgrenzung?

Wo endet Ausgrenzung?

Wie wir anhand der kürzlich durchgedrungenen Idee der Bundesregierung, Asylanträge auf europäischem Boden überhaupt verhindern zu wollen, sehen können, endet die Ausgrenzung nicht, wenn die Flüchtlingszahlen runter gehen. Sie endet nicht, wenn die EU die schärfsten Forderungen nach Außengrenzschutz erfüllt. Nein, die Forderungen nach noch schärferen Maßnahmen gehen einfach immer weiter. Wenn niemand mehr kommt (kommen kann), werden die ersten Forderungen nach Ausweisung lanciert werden. Wenn alle ausgewiesen sein werden, werden die Forderungen sich gegen die nächste Gruppe wenden, zum Beispiel Langzeitarbeitslose, die wurden sprachlich ja bereits von dieser Regierung verunglimpft. Und so reduziert diese Regierung Humanität immer weiter, engt sie ein, verdrängt sie aus unser aller Leben.

Wenn wir mit dem universalen Wert der Menschlichkeit brechen, mit jenem Wert, der unabhängig von geografischer, sozialer oder kultureller Herkunft gilt, wozu macht uns das? Es ist der erste Schritt zur Entmenschlichung. Nicht nur jener "Wirtschaftsmigranten", denen das Recht auf menschliche Behandlung abgesprochen wird, sondern auch jener, die ihnen dieses Recht absprechen. (Michael Bauer-Leeb, 17.7.2018)