T. C. Boyle denkt sich mit schlafwandlerischer Sicherheit in Situationen, die nicht in seiner Lebensumgebung liegen.

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T. Coraghessan Boyle, "Good Home". Stories. Übersetzt von Anette Grube und Dirk van Gunsteren. € 23,70 / 432 Seiten. Hanser-Verlag, München 2018

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Wenn man eine Kurzgeschichte zu Ende gelesen hat, lässt man sie gerne nachklingen und macht eine Pause, bevor man sich der nächsten zuwendet. Bei T. C. Boyle aber gerät man in einen Sog. Man möchte nicht aufhören, zu sehr ist man auf eine weitere Erzählung gespannt. Man wird süchtig.

Das hat damit zu tun, wie Boyle den Leser ohne Umschweife mitten in ein Geschehen setzt, ihn wie beiläufig einfängt. An den Short Storys des amerikanischen Autors ist kein Gramm unnötiges Fett. Er treibt eine Handlung sogar weiter, wenn zunächst gar nichts passiert außer im Kopf eines Fahrers, der sich seine Gedanken macht, weil schon wieder ein Stau ist und die Idioten um ihn herum nicht fahren können, und er hat für alle Fälle eine Glock 9 mm dabei, "nicht, dass ich sie auch benutzen will", aber man weiß ja nie ... usw. – und schon ist man drin in einer Geschichte, die sich dann ganz anders entwickelt, als man meint.

Gemeinsam ist den im neuen Band Good Home versammelten Erzählungen eine Klammer, die Boyle in Form eines Zitats seines Landsmannes, des Lyrikers Wallace Stevens, vorangestellt hat: Der wisse nicht, was ihm lieber sei, "die schöne Modulation oder die schöne Andeutung". Boyle entscheidet sich für beides. Viele seiner Geschichten fangen irgendwo an, man weiß nicht, wo man ist und war um, dann erst klärt er sukzessive auf und "moduliert" wie in einem spannenden Film – Slow Disclosure –, bis etwas umkippt.

Immer wird mehr getrunken

"Und dies war der Augenblick, in dem ihr Zweifel zu ihrem Tun kamen", heißt es dann in einer Story, und "das war der Augenblick, als seine ganze Welt aus den Angeln geriet", in einer anderen. Das mag eine mechanische rhetorische Finte sein, jedenfalls aber brechen nun die Konflikte auf, in Good Home wie übrigens auch in den meisten seiner mittlerweile 16 Romane. Es geht um den Kampf gegen eine nicht zu bändigende Natur, gegen Tiere und Wetterkatastrophen, um das (Nicht-)Beherrschen auch der inneren Natur, mithin um Süchte – immer wieder wird mehr getrunken, als den Protagonisten guttut.

Boyle hat im Vorwort seiner 2013 erschienenen, über 900 Seiten langen An thologie Stories II (der die neueren, nicht schon übersetzten 20 Geschichten für Good Home entnommen sind) gemeint, das Material komme zu ihm wie in einem Wachtraum und er schreibe gerne über etwas, das er nicht schon weiß und worüber er mehr herausfinden möchte. So hat er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit in Situationen hineingedacht, die manchmal so weit weg von seiner Lebensumgebung liegen wie die verbotene "Zone" um Tschernobyl oder die Praxis eines Kinderarztes in einem zentralamerikanischen Dorf. Auch in vertrauteren Territorien – er ist im Staat New York aufgewachsen und lebt in Kalifornien – schlüpft er in die unterschiedlichsten Rollen, kriecht geradezu in die Hirne von Jägern und Tierschützern, Teenagern und verfallenden Witwern, japanischen Zuwanderern, die sich vor der neuen Nachbarschaft fürchten, und Frauen, die sich per Skalpell verjüngen lassen wollen.

Ein Flächenbrand

Andererseits fließen auch Boyles eigene Erfahrungen ein, was den Storys jedenfalls nicht schadet. Die Küstenstraße, auf der der rabiate Glock-Besitzer im Stau steckt, kennt der Autor von seinen regelmäßigen Fahrten an die Uni in Los Angeles – er weiß, was auf ihr alles passieren kann. Seine Vertrautheit mit den merkwürdigen Inseln vor Santa Barbara, die er bereits im Roman Wenn das Schlachten vorbei ist beschrieb, kommt einer Geschichte über eine aus den Fugen geratende Angelpartie zugute. Und die Boyles, die oberhalb von Santa Barbara wohnen, erlebten selbst einen Flächenbrand, wie er in der Story über die Japaner und ihre Nachbarn von unerwarteter Seite ausgelöst wird. (Ihr Haus wurde verschont, schrieb T. C. Boyle, danke der Nachfrage.)

Das Good Home, das als eine der besten Erzählungen der Anthologie den Titel gibt, entpuppt sich keineswegs als gutes Zuhause, vielmehr als sein Gegenteil, vor allem für Vierbeiner. Andeutungen, Per spektivenwechsel, innere Monologe, das ganze Instrumentarium von Boyles Erzählkunst gipfeln in der Frage "Was genau sind Ködertiere?". Mehr sei hier nicht verraten.

Stories II ist Spencer, dem Sohn der Boyles, gewidmet, "der seine eigenen Geschichten mit sich trägt". Die vorliegende Sammlung ist "für Michael Krüger und Anne Leube"; sowohl der ehemalige Verleger von Hanser wie die langjährige Lektorin haben dazu beigetragen, dass der Autor im deutschsprachigen Raum fast noch bekannter ist als in seiner Heimat. Anteil daran haben auch die Übersetzer. Im vorliegenden Band haben sie mit- und weitergedacht und zum Beispiel die Meilen in der "Zone" durch die in der Ukraine doch eher üblichen Kilometer ersetzt. Und den oft sehr idiomatischen Jargon Boyles haben sie souverän übernommen und etwa den Satz "All she wrote" schön so eingedeutscht: "Tja, das wär’s dann gewesen." (Michael Freund, 17.7.2018)