Britische Parlamentarier bekommen eine Kopie des Weißbuchs zum Brexit. Premierministerin Theresa May will das Ausscheiden ihres Landes aus der EU möglichst "weich" gestalten.

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Drei Tage nach seinem Amtsantritt hat Brexit-Minister Dominic Raab am Donnerstag das lange erwartete Weißbuch zum zukünftigen Verhältnis Großbritanniens und der EU vorgelegt. Ziel sei ein "prinzipientreuer und praktikabler Brexit", sagte der Kabinettsneuling im Unterhaus. Die konservative Regierung von Premierministerin Theresa May sei zuversichtlich, dass die britischen Ideen Grundlage für eine "dauerhafte Abmachung", ein sogenanntes Assoziierungsabkommen, sein könnten.

Das 98-seitige Dokument basiert auf dem Chequers-Papier vom vergangenen Freitag, das nach einer langen und kontroversen Sitzung des Kabinetts zustande gekommen war. Statt des zwei Jahre lang propagierten harten Brexits samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion werden nun ein weicher Brexit und wirtschaftlich enge Verflechtung mit dem Kontinent angestrebt. Deshalb waren zu Wochenbeginn Raabs Vorgänger David Davis sowie Außenminister Boris Johnson zurückgetreten. Dieser soll Mays Vorgehen als "Scheißhaufen" (turd) bezeichnet haben.

Der neue Brexit-Minister Dominic Raab stellte am Donnerstag die Pläne der britischen Regierung zum EU-Austritt vor.
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Die jetzt vorgelegte Verhandlungsstrategie zog umgehend scharfe Kritik von EU-Feinden sowie von Lobbyisten der Londoner Finanzindustrie auf sich, hingegen fielen die Reaktionen in Brüssel moderat aus. Er werde das Weißbuch mit den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament analysieren, teilte Chefunterhändler Michel Barnier mit. "Ich freue mich auf die Verhandlungen in der kommenden Woche."

Im Vorfeld seines Besuches auf der Insel übte US-Präsident Donald Trump indirekt Kritik am Kurswechsel der Regierung: Der britische EU-Austritt falle ja "ein bisschen anders aus" als geplant. Im Unterhaus musste sich der neue Minister vom Parlamentspräsidenten Speaker dafür tadeln lassen, dass Kopien des Weißbuches erst gegen Ende seines Statements den Abgeordneten zugänglich gemacht wurden, obwohl ausländische Journalisten schon vorab Zugang erhalten hatten.

Das lange erwartete Dokument dient als Grundlage für die Verhandlungen der nächsten Wochen. Nach der vorgezogenen Parlamentswahl vom vergangenen Juni diskutierten Briten und die EU-Kommission zunächst über die Austrittsbedingungen. Darüber kam es im Dezember zu einer weitgehenden Einigung. Beide Seiten betonen aber: Die Verträge über den Austritt wie über die zukünftige Zusammenarbeit müssen als Paket gesehen und verabschiedet werden. Ausdrücklich wird in Regierungsbriefings die "No deal"-Variante, also ein Ausscheiden ohne Vereinbarung, erwähnt; stets wird aber betont, man erhoffe einen positiven Ausgang der Verhandlungen.

Rechte von EU-Bürgern auf Insel geklärt

London hat die von der EU errechneten Bruttoverbindlichkeiten von rund 98 Milliarden Euro akzeptiert; netto wird die Insel über mehrere Jahre zwischen 40 und 55 Milliarden Euro in die Brüsseler Kasse zahlen müssen. Geklärt sind auch die zukünftigen Rechte von etwa 4,5 Millionen EU-Bürgern auf der Insel sowie von rund einer Million Briten auf dem Kontinent. Wer mindestens fünf Jahre unbescholtenen Aufenthalt auf der Insel nachweisen kann, erhält dauerhaftes Aufenthaltsrecht sowie Zugang zu Gesundheits- und Sozialsystemen. Beschlossen ist auch eine Übergangsphase nach dem nominellen Austritt im kommenden März: Bis Ende 2020 bleibt Großbritannien praktisch EU-Mitglied, ohne aber am Brüsseler Verhandlungstisch zu sitzen.

Für die Zeit danach wünscht sich die May-Regierung eine Freihandelszone für Güter und Lebensmittel; dafür solle es ein "gemeinsames Regelbuch" geben, was faktisch Großbritanniens Unterwerfung unter EU-Regularien bedeutet. Damit wäre das Problem der künftigen inneririschen Grenze weitgehend gelöst, lautet die Hoffnung in London. Auch möchten die Briten weiterhin den EU-Aufsichtsbehörden für chemische und pharmazeutische Produkte unterstehen und dafür bezahlen.

Bei Dienstleistungen will die Insel ihre eigenen Wege gehen. So soll der bisher reibungslose Zugang der Finanzindustrie zum Binnenmarkt deutlich schwerer werden. Das sei "ein echter Tiefschlag" für ihren Sektor, kritisierte Catherine McGuinness von der City of London.

Ende der Personenfreizügigkeit

Das Weißbuch bekräftigt erneut das Ende der Personenfreizügigkeit. Allerdings lässt sich die Regierung ein Hintertürchen offen, um EU-Bürgern auch in Zukunft Vorzugsrechte einzuräumen, wenn sie Großbritannien besuchen, dort arbeiten oder studieren wollen. Obwohl dies eindeutig im britischen Interesse läge, haben die Brexit-Ultras diesen Passus scharf verurteilt.

Nicht nur leiten Manager aus EU-Ländern führende Unternehmen wie den Pharmakonzern Astra Zeneca (der Franzose Pascal Soriot) oder den Automobilbauer JLR (der Deutsche Ralf Speth); auch im nationalen Gesundheitssystem bräche ohne Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger aus Spanien, Rumänien und Polen das Chaos aus.

Milliardenschwere Branchen wie der Tourismus und der Bildungssektor profitieren von der Nachfrage vom Kontinent. Die Attraktivität britischer Universitäten ist trotz der hohen Studiengebühren von mindestens 27.000 Pfund (30.600 Euro) für einen dreijährigen Bachelor-Abschluss ungebrochen. Fürs kommende Studienjahr haben sich mehr als 50.000 junge EU-Bürger beworben, zwei Prozent mehr als im Vorjahr. (Sebastian Borger aus London, 12.7.2018)