Die XXI. Fußballweltmeisterschaft hat einige Überraschungen gebracht. So hat sich die Ära des sogenannten Ballbesitzfußballs endgültig überlebt. Die solcherart spielenden Teams erwiesen sich als bloße Ballbesitzstandswahrer und verabschiedeten sich darum auch frühzeitig. Manche sogar unter Verlust ihres Gesichts.

Ein solches Turnier ist allerdings – den Beteuerungen des Weltverbandes Fifa zum Trotz – nicht bloß eine sportliche Angelegenheit. Im Wettstreit der Nationalteams reflektiert sich auch der Zustand der Gesellschaften.

Sagen wir: der österreichischen. Der ausgelassene, teils jenseitige Jubel kroatischer Fans in der Ottakringer Straße wird von vielen auf einmal als ultranationalistische Manifestation wahrgenommen. Da und dort sogar die Loyalität der Wiener Kroaten zu Österreich in Zweifel gezogen. Migrationshintergrund als Verdachtsgrund.

Mosaikstein einer bunten Stadt

Vor zehn Jahren, bei der EM in Wien, galt der nicht minder ausgelassene Jubel der Austrotürken und Austrokroaten, deren Teams im Viertelfinale aufeinandertrafen, als ein bloßer Mosaikstein einer bunten Stadt. Und dass manchmal der Teufel Adrenalin den Beelzebub Testosteron reitet, hielt man noch für ein im Fußball insgesamt verbreitetes, nicht an Nationen angeheftetes Problem, das sich auch auf der Hütteldorfer oder der Favoritenstraße manifestiert.

Noch deutlicher ist diese Änderung in Deutschland. Dass die Deutschtürken Mesut Özil und llkay Gündogan sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan haben fotografieren lassen, galt auf einmal als – ganz unpolemisch – undeutsch. Özil hat dies schon früher getan. Ungeahndet. Nun wurde die Eignung, Nationalspieler zu sein, forsch infrage gestellt. Oliver Bierhoff, Teammanager, hat in einem Interview gemeint, es wäre wohl besser gewesen, Özil nicht mitzunehmen. Wäre eine solche Forderung nach Identitätseindeutigkeit auch 2014 denkbar gewesen, als ganz Weltmeister-Deutschland so stolz war auf seine Multikulti-Truppe, in der es von Mehrfachloyalitäten wimmelte?

Patriotismus, Nationalismus, Ultranationalismus

Europa, das mit vier Teams im Halbfinale den Weltfußball klar dominiert, ist offensichtlich empfindlicher, um nicht zu sagen idiosynkratisch geworden. Je mehr die Staaten der EU angesichts sich türmender Herausforderungen auseinanderdriften, desto dringlicher ist offensichtlich der Wunsch nach Zugehörigkeitsbeteuerungen.

Die kroatischen gelten aber wieder als zu viel. Penibelst bis haarspalterisch scheidet man nun auch im Fußball den Patriotismus vom Nationalismus und diesen vom Ultranationalismus. Wie genau sich das eine vom anderen unterscheidet, lässt sich nicht sagen. Es ist eher ein Gefühl. Ein Feeling.

Dazu kommt auch ein wieder modern werdendes uraltes Prinzip: Quod licet Iovi, non licet bovi. Was dem Gottobersten erlaubt ist, ist den Rindsviechern nicht erlaubt. Der kroatische Verteidiger Domagoj Vida kam etwa mit einer privat versandten Videobotschaft an einen Freund in Kiew, wo er lange gekickt hatte, in des Teufels Küche. Der 29-Jährige verabschiedete sich feier- und bierlaunig mit dem gängigen, in Russland freilich ungern gehörten Gruß "Slawa Ukrajini". So – Ruhm der Ukraine – zeichnete auch Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel seine Grußbotschaft zum ukrainischen Unabhängigkeitstag.

Vida hat sich beim Gastgeber übrigens entschuldigt. Und zeigte so eine Größe, die man etwa einem Harald Vilimsky von Herzen wünschen würde. (Wolfgang Weisgram, 15.7.2018)