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Foto: AP Photo/Giannis Papanikos

Noch immer denkt Christian Feiler an diesen traumatischen Moment vor 25 Jahren zurück. Am Fenster im dritten Stock eines Wohnhauses tritt eine Frau mit einem kleinen Kind am Arm durch den Rauch, erinnert sich der Feuerwehrmann. Sie hat Verbrennungen dritten Grades, reagiert nicht auf Megaphonrufe, nimmt nichts mehr wahr. Noch bevor die Einsatzkräfte ein Sprungkissen errichten können, wirft die Mutter ihr Kind aus dem Fenster. Danach springt sie. Helfer schaffen es noch, das Kind mit bloßen Händen aufzufangen. Die Mutter knallt auf den Boden. Sie überlebt schwerverletzt, das Kind erleidet einen Kieferbruch.

Feiler, damals junger Einsatzleiter, plagen Selbstzweifel: Hätte er vor Ort andere Entscheidungen treffen müssen? "Ich war an einem Scheideweg", beschreibt er die psychische Belastung. Weitermachen oder Job aufgeben?

Es war ein älterer Kollege, der ihm zuhört, den Einsatz noch einmal Schritt für Schritt mit ihm bespricht, ihn in seinen getroffenen Entscheidungen stützt. Heute arbeitet auch eine Psychologin in der Feuerwehrwache. Aber nicht immer wird sie in Anspruch genommen, erzählt Feiler. "Es bringt nichts, Kollegen Hilfe nahezulegen." Das Selbstbild des Mannes stehe dem oft im Wege. "Ein Mann darf nicht weinen, nicht jammern, hat der Starke zu sein. Mut spielt bei der Feuerwehr eine Rolle, der Retter zu sein. In uns steckt das 'Wir schaffen das'-Syndrom."

Aber manchmal schaffen sie es nicht, sondern verdrängen bloß ihre Ängste. Im schlimmsten Fall kann der versperrte Zugang zum eigenen Empfinden zur Arbeitsunfähigkeit führen, erzählt Feiler. "Da bekommt man vielleicht eine Veränderung eines Kollegen mit, er wird einsilbiger, zieht sich zurück." Nach fast 30 Dienstjahren weiß Feiler eines: "Ich kann den Spruch 'Was uns nicht umbringt, macht uns stärker' nicht mehr hören."

So viel vom neuen Mann auch die Rede ist, die alten Stereotype vom unempfindlichen Haudegen sind immer noch mächtig. Das schadet nicht nur den Männern, sondern der gesamten Gesellschaft. Die Unfähigkeit, Erlebnisse und Konflikte aufzulösen, fördert Alkoholismus und Gewalt.

Keine Schande oder Schwäche

Frauen empfänden es hingegen seltener als Schwäche, sich an Therapeuten oder Ärztinnen zu wenden, erklärt Psychiaterin und Gerichtsgutachterin Sigrun Roßmanith. "Sie haben vielmehr den Weitblick zu wissen, es geht ihnen dann besser." Einen Mann müsse sie zu Beginn fast beruhigen, dass es keine Schande sei, psychische Probleme zu haben. "Männer sagen als Erstes: Ich habe es nicht im Kopf", so Roßmanith. Sie würden ihr dann zustimmen, wenn sie entgegnet: "Ich weiß, Sie haben es in der Seele." Ohne die Stigmatisierung, gesellschaftlich als "verrückt" zu gelten, ließen sich Probleme leichter artikulieren.

Die unterschiedliche Auseinandersetzung von Männern und Frauen mit den eigenen Gefühlen und dem eigenen Körper lässt sich auch aus der Österreichischen Gesundheitsbefragung ablesen: Fast doppelt so viele Frauen wie Männer geben an, unter Depressionen zu leiden. Dabei gibt es zumindest biologisch keine Begründung für ein geringeres Depressionsrisiko bei Männern. Sozialwissenschaftlerin Anne Maria Möller-Leimkühler stellt bei Männern ein eher körperlich-instrumentelles Verständnis von Gesundheit fest, Missempfindungen würden bagatellisiert werden. "Damit besteht die Gefahr, dass psychische Störungen bei Männern eher übersehen werden."

Die Folgen dieser toxischen Männlichkeit können verheerend sein: Statt sich Hilfe zu suchen, tendieren Männer deutlich häufiger als Frauen dazu, auf Frust oder Ausweglosigkeit mit Gewalt und Selbstschädigung zu reagieren. Über 70 Prozent der Alkoholabhängigen in Österreich sind männlich. Männer begehen fast viermal häufiger Suizid als Frauen. Sie richten die Gewalt aber nicht nur gegen sich selbst, wie die Kriminalitätsstatistik zeigt: Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben begehen Männer zehnmal häufiger als Frauen, jene gegen sexuelle Integrität und Selbstbestimmung fast 60-mal häufiger als Frauen.

Auch Terrorismus und Amokläufe sind stark männlich dominiert. Einer Statistik von "Mother Jones" zufolge, in der alle Schusswaffenattentate in den USA mit mehr als vier Toten seit 1982 analysiert wurden, bilden die größte Tätergruppe: weiße Männer. Insgesamt wurden nur drei der insgesamt 101 Vorfälle von Frauen (mit-)verübt.

Dabei geht es oft um Frustration, Unzufriedenheit, sogenanntes "male entitlement": Die Täter sehen sich im Recht, etwas zu erhalten, was ihnen aber ihrer Ansicht nach verwehrt wird. Dabei kann es sich um Erfolg im Job handeln – der "Amokfahrer von Münster" etwa hatte offenbar seinen beruflichen Niedergang nicht verkraftet. Oder auch die vermeintlich "verwehrte" Aufmerksamkeit von Frauen, die etwa der Amokfahrer von Toronto im April oder der Schütze von Isla Vista 2014 beklagten.

Die Opfer der männlich dominierten Gewalt sind überdurchschnittlich oft Frauen: Laut der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie waren 2017 österreichweit 83 Prozent der gemeldeten Opfer häuslicher Gewalt weiblich – während die Gewalt in 88 Prozent der Fälle von Männern ausging. Seit 2012 wurden insgesamt 122 Frauen von Männern und sieben Männer von Frauen innerhalb eines Nahe- oder Beziehungsverhältnisses getötet. Dieses Jahr waren es bereits 16 Frauenmorde. Im Mai ermordeten zwei Männer ihre Ex-Partnerinnen in Wien. Erst am Montag hat ein Mann in der Obersteiermark seine Ex-Freundin mit Benzin übergossen und versucht, sie anzuzünden.

Was bedingt diese Geschlechterdifferenz? Christian Scambor vom Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark sieht einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normen und Rollenbildern – und damit, wie Jugendliche sozialisiert werden, "welche Werte und Verhaltensweise verstärkt oder abgewertet werden". Bereits im Kindes- und Jugendalter finde man(n) "keine geschlechtsneutrale Welt" vor, sie sei "mit vielen toxischen Bildern ausgestattet", erklärt der Psychologe, der unter anderem in der Gewaltarbeit tätig ist. Vorstellungen wie jene des "gewalttätigen, zornigen Mannes, der rot sieht" seien nicht angeboren, sondern würden "von unserer Kultur" vorgeschlagen und weitergegeben werden.

Positive Vorbilder fehlen

Auch Männerforscher Christoph May kritisiert die vorherrschenden Idole – neben jenen in Film und Literatur auch emotional distanzierte Elternteile. "Wir erleben Väter, die kaum Interesse für die Erziehungsarbeit aufbringen", und Söhne, die nach wie vor dazu erzogen würden, ihre Gefühle zu unterdrücken. "Von positiven, emotional integren Männerfiguren sind wir weit entfernt", beklagt May. Auch für Gerichtsgutachterin Roßmanith braucht es "gesunde Identifikationsfiguren", die sich nicht hinter "männlichen" Fassaden verstecken. Aus ihrer Arbeit erzählt sie: "Die größten Schläger auf der Straße sind, wenn man sie untersucht, hilflose Däumlinge. Dahinter steckten 'Kindsmänner', die wie in der Sandkiste agieren, wenn Kinder anderen eine Schaufel auf die Birne hauen. Ich verniedliche, aber im Grunde geht es bei Gewalttaten um solche Konflikte."

"Wir erleben Väter, die kaum Interesse für die Erziehungsarbeit aufbringen", kritisiert Männerforscher May. Positive, emotional integre Vorbilder wie hier fehlen.
Foto: Marisa Vranjes

Den Umgang mit Wut musste Florian S. erst lernen. 2017 eskaliert ein Streit mit seiner Frau, er wird gewalttätig. Nach einer 14-tägigen Wegweisung beschließt der 72-Jährige, ein Antigewalttraining bei der Männerberatung zu machen, um Konflikte nie wieder so eskalieren zu lassen. Dort lernt der Pensionist mit Aggression umzugehen: Er trainiert, anderen zuzuhören, Situationen zu beobachten und nicht sofort zu bewerten. Die Haupterkenntnis nach einem Jahr? "Dass ich mich selbst hinterfrage und die Schuld nicht zuerst bei anderen suche. Ich weiß nun, dass ich Situationen meist selbst klären, neutralisieren oder verbessern kann", schildert er seine als befreiend empfundene Emanzipation.

Tausende nicht betreut

Florian S. hat sich freiwillig an die Männerberatung gewandt, viele Männer kommen gar nicht so weit. In Wien gibt es etwa 4.000 Wegweisungen im Jahr, "aber nur rund fünf Prozent davon docken bei uns an", erklärt Alexander Haydn von der Männerberatung Wien. Eine langjährige Forderung des Vereins ist daher, Gefährder proaktiv kontaktieren zu können, was derzeit aus Datenschutzgründen nicht möglich ist. Im "großteils fortschrittlichen" Gewaltschutzgesetz liege der Fokus auf Opfer- und Kinderschutz, die Täterarbeit fehle aber, kritisiert Haydn. Diese Säule müsse "etabliert und auf eine vernünftige Budgetierung gestellt werden".

Die zur Illustration verwendeten Fotos sind Teil einer Serie über männliche Stereotype, an der die in Wien lebende Fotografin Pamela Rußmann mit dem Musiker Julian Joy arbeitet. Ende des Jahres wird die Serie in einer Ausstellung zu sehen sein.
Foto: Pamela Rußmann

Die türkis-blaue Regierung setzt allerdings auf härtere Strafen, das Innenministerium stoppt zugleich die Teilnahme von Polizisten an den sogenannten Marac-Konferenzen, bei denen Hochrisikogewaltfälle evaluiert wurden. Schon vergangenen Herbst wurde vom Innenressort entschieden, die Bezahlung von Expertinnen bei Polizeiausbildungsseminaren über Gewalt in der Familie einzustellen sowie diese Seminare insgesamt von 16 auf zwölf Stunden zu kürzen.

Gewalt als "globales Problem"

Zudem wird Rhetorik verwendet, die Gewalt als importiertes Problem darstellt: So behauptete etwa FPÖ-Frauensprecherin Elisabeth Schmidt vergangene Woche, dass gewalttätige Übergriffe meist von Tätern aus dem "Zuwanderermilieu" begangen würden. Gewaltschutzexperten betonen allerdings, dass Gewalt sich quer durch alle Milieus und soziale Schichten zieht. Es handle sich um "ein globales Problem", heißt es dazu etwa im Tätigkeitsbericht der Wiener Interventionsstelle, "das in allen Ländern, Kulturen und Religionen existiert".

Männerberater Haydn räumt aber ein, dass man einen Fokus auf "verlorene Generationen" legen müsse, etwa junge Menschen, die seit Jahren nur Krieg und Gewalt erlebt hätten. Für solche Fälle riefen Männerberatungsstellen und NGOs "Men Talks" ins Leben, wo es "ein Stück weit um "Nachbeeltern" ginge, erklärt Haydn. Themen des Dialogprogramms waren etwa Gesetze, Gleichstellung oder Sexualität. Im Mai wurde die Förderung dafür allerdings gestrichen, sagt Haydn. "Weil der Schwerpunkt in der Frage auf Rückführungen liegt."

Ein anderes Projekt, das gesunde Vorbilder schaffen soll, ist bis Ende 2018 finanziert: Bei "Heroes" durchlaufen junge Männer aus sogenannten "ehrkulturellen Milieus" eine Ausbildung, in der sie für Gleichberechtigung sensibilisiert werden. Danach reden sie selbst in Schulen über Ehre, Gewalt oder Unterdrückung.

Neue, gesunde Geschlechterbilder

Psychiaterin Roßmanith sieht in der Erziehung, aber auch bei den Massenmedien Hebel, um neue Geschlechterbilder zuzulassen. Veränderungen habe es aber teilweise schon gegeben, fügt Männerberater Haydn hinzu. Er beobachte, dass Männer "früher und teilweise bei geringeren Gewaltformen" zur Beratung kommen. Allerdings liegt das seiner Ansicht nach weniger an den Männern selbst, sondern an den Frauen, die sich immer weniger gefallen lassen würden. Hier schließt May an: Nicht zuletzt durch die MeToo-Debatte sei das Tabu, offen kritisch über Männlichkeit zu sprechen, weiter aufgebrochen worden. So gesehen wäre gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, um ein "positives, selbstkritisches und feministisches Männerbild" zu propagieren, das einen gesunden Umgang mit Gefühlen umfasst. (Noura Maan, Sandra Nigischer, 22.7.2018)