Dass man in der ehemaligen Kaiserstadt auch heute noch selbstverständlich eine Kaisersemmel serviert bekommt, ist nicht weiter verwunderlich. Im Rollettmuseum in Baden bei Wien befindet sich jedoch auch ein quasi prä-proletarischer Gegenspieler dieses imperialen Gebäckstücks. Das Spendenverzeichnis vom 18. Februar 1877 notiert, dass "Herr Anton Schmidberger eine Semmel vom Jahre 1805 aus dem Thumult in Wien im Oktober des genannten Jahres" an das Museum gespendet hat. Und tatsächlich kann das als "napoleonische Semmel" titulierte Artefakt auch nach 213 Jahren immer noch in der Schausammlung des Museums im ersten Stock bewundert werden.

Welche Geschichte steckt hinter diesem Gebäckstück?

Die Biedermeierperiode wird gerne auch als Backhendlzeit bezeichnet, dessen Eponym jedoch nur wohlhabenderen Wiener Bürgern vorbehalten war. Zu diesen zählte keinesfalls der von der damaligen Justiz so bezeichnete "Fabrikenpöbel", der sich in der Wiener Vorstadt tummelte – und er tummelte sich hungrig und im Elend. Der Grund für dieses Elend war das seit den Regierungszeiten Maria Theresias kontinuierlich inflationäre Staatsbudget, das durch Ausgaben für Rüstung und Militär in mannigfaltigen Kriegen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch durch die Einführung von Papiergeld, sogenannten Bancozetteln, nicht eingedämmt werden konnte.

Im Sommer des Jahres 1805 rüsteten die Länder der Monarchie und Wien abermals auf, diesmal in Erwartung der Truppen Napoleons. Im Zuge dessen wurden Alltagsgegenstände und Lebensmittel zusehends teurer. Brot und Semmeln behielten zwar ihren Preis bei, jedoch wurde ihr Gewicht deutlich verringert. Der Kulturhistoriker und Schriftsteller Karl August Schimmer schreibt in seinem Bericht über die französischen Belagerungen Wiens in den Jahren 1805 und 1809, dass man sich diese kleinen Semmeln von 1805 viele Jahre lang als Kuriosa aufbewahrte. Offensichtlich handelt es sich bei dem Exemplar in Baden um eine derartige Kuriosen-Semmel.

Semmel, heute und damals.
Foto: Rollettmuseum Baden

Großstädtische Brotrevolte

Allerdings sind für Oktober des Jahres 1805, wie im Spendenverzeichnis vermerkt, keine Tumulte in Wien belegt, mit denen die Semmel in Zusammenhang stehen könnten. Irrte hier der Spender oder der Museumsleiter mit der Angabe eines Monats? Denn es war der 7. Juli 1805, als es im 4. Wiener Gemeindebezirk, auf der Wieden, zu einem Aufstand kam, im Zuge dessen die Bäckereien vor Ort gestürmt wurden und der als "Bäckerrummel" oder "Bäcker-Aufruhr" in die Geschichte Wiens eingegangen ist. Die Proteste wiederholten sich tags darauf in der Josefstadt, in Mariahilf, in Neubau, Neustift und St. Ulrich. Mehrere Tausend Mann Militär schritten gegen die "Tumultuanten" ein: Zehn Tote und rund 200 Verletzte blieben auf dem Platz. Hunderte wurden verhaftet. Die jüngeren Männer unter den Arrestanten wurden nach Vollstreckung der Prügelstrafe ins Militär zwangseingezogen. Die k. k. Berichterstattung erklärte sich den sogenannten "Bäckerrummel" von 1805 jedoch durch "französischen Emmissäre", auch hätte man unter den Toten "einen ganz unbekannten Fremden, der mit einer dreifarbigen Fahne einen Haufen angeführt hatte" gefunden. Denn selbstverständlich hatten österreichische Untertanen nicht aus Hunger zu revoltieren.

Diese großstädtische Brotrevolte ähnelte dem sozialen Protest der sogenannten "Journées" der Französischen Revolution, die ebenfalls zumeist im Sommer stattfanden. Und das war ganz natürlich, da zu dieser Jahreszeit die Getreidevorräte bereits aufgebracht und Transport und Vermahlung der neuen Ernte noch nicht bewerkstelligt waren. "Bäckerrummel" waren auch in Wien im Jahr 1805 keineswegs ein neues Phänomen, hatte man doch die Wiener Bäckereien schon einmal gestürmt: in den letzten Julitagen 1788 aufgrund enormer Preissteigerungen unter Joseph II., Bauern Bürger und Handwerker mussten für die rasch ansteigenden Kriegskosten aufkommen, und der Türkenkrieg zog sich weiter in die Länge. Für die zweite französische Besatzung im Jahr 1809 liegen allerdings zahlreiche Berichte von gestürmten Bäckereien in Wien vor.

Napoleon war das übrigens ziemlich wurscht – um gleich in der Nahrungsmitteldiktion zu bleiben –, denn er nützte seinen kurzen Aufenthalt in Wien im November 1805 in erster Linie dazu, um sich für die nachfolgende Schlacht von Austerlitz am 2. Dezember desselben Jahres vorzubereiten, die sein größter Erfolg sein sollte.

Der Semmel-Spender

Zurück zu unserer Semmel: Sie hatte diese und noch weitere Belagerungen und Hungernöte in Wien tapfer und unbeschadet überstanden und war laut Spendenverzeichnis bereits 71 Jahre alt, als sie ihre endgültige Bleibe in Baden gefunden hatte. Doch handelt es sich hier tatsächlich um die Semmel Anton Schmidbergers, die er 1877 dem Museum übereignet haben soll? Ein Blick auf die Semmel verkündet uns unübersehbar (siehe Abbildung) in großen Lettern "Baden bei Wien, 25. Juli 1886", also neun Jahre später als der Vermerk im Verzeichnis. Könnte dieses Datum nur den Zeitpunkt ihrer Inventarisierung darstellen? Einen Hinweis dafür liefern die vielen begonnenen Listen und Inventare des damaligen Museumsleiters Hermann Rollett, die allesamt nicht fertiggestellt wurden – sei es aufgrund seiner Tätigkeit als Sammler, Stadtarchivar, aufgrund seiner vielfältigen Vereinsaktivitäten oder seiner niemals aufgegebenen Leidenschaft für die Dichtung.

Anton Schmidberger scheint jedenfalls ein weiteres Mal im Spendenverzeichnis des Museum auf, und zwar am 4. Juli 1891, als der "fünf verschiedene Familien-Dokumente" dem Rollettmuseum überließ. Die Residenzstadt Baden war dem Stifter Schmidberger bereits bekannt: Im Jahr 1884 wird er im Juni in der städtischen Badener Kurliste geführt, als Beamter aus Wien, wohnhaft in der fashionablen Franzensstraße 42, dem heutigen Kaiser-Franz-Ring, der beim Kurpark beginnt. Unter eben dieser Adresse hielt sich im Mai des Jahres 1887 Leontine Schmidberger, "Beamtens-Gattin mit Kind und Dienstmädchen", auf. Und noch ein Hinweis auf die Verankerung in Baden: Zwischen dem 30. April 1881 bis zum 26. März 1892 schaltete ein Anton Schmidberger regelmäßig Inserate im Badener Bezirks-Blatt, um seine Realitäten-Verkaufs-Kanzlei zu bewerben, unter derselben Adresse in Baden, der Franzensstraße 42, für die der Kuraufenthalt der Familie Schmidberger belegt ist.

In Wien scheint ein Anton Schmidberger in Lehmanns Wohnungs-Anzeiger des Jahres 1884 als Beamter der Ölindustrie-Gesellschaft auf, wohnhaft im 9. Bezirk in der Harmoniegasse 4, die 1862 in Wasagasse umbenannt wurde. Nach zwei Umzügen lebte er ab 1895 im 3. Bezirk in der Hörnesgase 24, ab 1893 führt er zusätzlich den Eintrag "Besitzer der kaiserlich-türkischen Medaille für Kunst" und stieg nach der Jahrhundertwende zum Obersten Buchhalter der Ölindustrie-Gesellschaft auf.

Zu diesem Zeitpunkt war die Öl-Industrie der Donau-Monarchie die drittgrößte der Welt. Auch wenn sie heute nur noch in Archiven und historischen Dokumenten erhalten ist, so waren damals für ihr Fördergebiet Begriffe wie "Österreichs Baku", "das osteuropäische Pennsylvanien", "Galizisches Kalifornien" in Umlauf.

Ab 1916 wird unter derselben Adresse im 3. Bezirk Leontine Schmidberger, Oberste Buchhalters-Witwe geführt, die im Jahr darauf in den 13. Bezirk umzieht. Handelte es sich hier um denselben Herrn Anton Schmidberger, der sich als Immobilienhändler eine zusätzliche Einnahmequelle in Baden geschaffen hatte? Und hatte er dieses nach 1892 aufgegeben, nahezu zeitgleich mit dem Erhalt der kaiserlich-türkischen Medaille für Kunst? Auch wenn Anton Schmidberger offensichtlich um 1915 gestorben ist, so kann er wohl kaum aufgrund seines damaligen Alters – als Spender der Semmel im Jahr 1877 – als Kriegsteilnehmer umgekommen sein. Was von Schmidbergers löchriger Biographie also bleibt, ist der Nachruhm, den er sich mit der Schenkung der Semmel an das Rollet-Museum erworben hat.

Kleine Semmel, große Reise

So hat uns eine kleine Semmel auf eine große Reise geführt, von den französischen Belagerungen Wiens über das Osmanische Reich bis in die industriellen Bemühungen während der k. k. Monarchie. Auf diesem Weg hat sie zwar mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet – doch wer hätte ihr das auf den ersten Blick zugetraut? (Celine Wawruschka, 1.8.2018)