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Viktor Orbán bei einer seiner berüchtigten Reden an der Bálványos-Sommerschule im rumänischen Baile Tusnad.

Foto: Nandor Veres/MTI via AP

Ich würde Ihnen gerne einige wesentliche Faktoren der Zerschlagung der liberalen Demokratie in Ungarn darlegen, des Hauptproblems mit der Politik des Orbán-Regimes. Außerdem möchte ich erläutern, warum ich glaube, dass nur eine linkspopulistische Bewegung die Demokratie in Ungarn – und in der Europäischen Union – retten kann.

· Das Scheitern der Wende in Osteuropa – die Bankrotterklärung der liberalen Demokratie Die großen Verheißungen beim Übergang von der Zentralverwaltungs- zur Marktwirtschaft in Osteuropa waren die Garantie grundlegender Bürger- und Menschenrechte und der persönliche ökonomische Wohlstand. Versprochen wurde im Wesentlichen, dass der Aufbau der zentralen rechtsstaatlichen Einrichtungen und die Implementierung des Kapitalismus Stabilität und Wohlstand bringen würden. Eingetreten ist ziemlich genau das Gegenteil: Unmittelbar nach der Wende verloren eine Million Menschen ihre Arbeitsplätze, die zuvor staatlich betriebenen Firmen und Unternehmen wurden privatisiert und landeten in den Händen einiger weniger Oligarchen. Das Höchstgericht lehnte es ab, die politischen Spitzen der Diktatur zur Verantwortung zu ziehen, und verabsäumte es, die Rechte der Minderheiten zu verteidigen. Schon lange vor 2010 herrschte eine Segregation an öffentlichen Schulen zwischen weißen und Roma-Schülern. Das Arbeitsrecht bot den arbeitenden Massen keinen Schutz mehr: Sie wurden ausgebeutet, mussten mehr als acht Stunden täglich arbeiten und bezogen nicht einmal den Mindestlohn.

Ehemalige Musterschüler

Man kann zu Recht sagen, dass Ungarn in den Neunzigern aus der Sicht unserer Partner im Westen ein Musterschüler war und unsere Elite recht brav das Gerüst einer liberalen Demokratie aufgebaut hat – nur leider eben ohne die Bevölkerung mit einzubeziehen. Die gelernte Lektion ist hart und grausam: Kein Gericht kann die Unvollkommenheiten der Demokratie reparieren. Meiner Meinung nach wäre eine solche Reparatur nur durch die Beteiligung und Ermächtigung der Bevölkerung möglich. Nachdem aber diese Institutionen den Bürgern nicht zugänglich sind, nimmt es kaum wunder, dass die Masse der Ungarn diese Errungenschaften nicht verteidigt, seit Viktor Orbán 2010 mit seiner ersten Zweidrittelmehrheit – der Verfassungsmehrheit – ins Amt gewählt wurde.

· Orbáns illiberaler Staat Orbán hat die Demokratie nicht popularisiert – er hat sie privatisiert, wie der ungarische Politikwissenschafter Attila Antal in seinem Buch schreibt. Orbán hat sich nicht um eine Beteiligung der Bürger bemüht, sondern ihre Depressionen geschürt und ihnen das Gefühl gegeben, dass ihr Wille nicht zählt. Das eigentliche Problem mit seiner "illiberalen Demokratie" ist nicht, dass sie nicht liberal, sondern dass sie keine Demokratie ist. Wie schon erwähnt, hat es die liberale Demokratie in vieler Hinsicht nicht geschafft, den Menschen in Ungarn zu dienen. Als Orbán also zentrale Institutionen wie das Höchstgericht und das Wahlsystem in Beschlag genommen, zugrunde gerichtet oder unterminiert hat, hat er also etwas zerstört, was in den Augen der meisten Bürger ohnehin wertlos war, weil sie nicht das Gefühl hatten, dass ihnen diese Institutionen etwas nutzten.

Orbán hat die Demokratie und die Chancen der Menschen auf Selbstbestimmtheit beschädigt. Er hat die Möglichkeit von Volksabstimmungen eingeschränkt, die öffentlich-rechtlichen Medien zu Propagandakanälen gemacht und so den Menschen den Zugang zu Informationen geraubt, und er hat die letzten Überbleibsel des Wohlfahrtsstaates ebenso ruiniert wie soziale Rechte, wodurch es den meisten Menschen, besonders den Armen, unmöglich geworden ist, ihre grundlegenden Freiheitsrechte zu gebrauchen.

Sie mögen jetzt finden, ich klinge wie jemand, der den Rechtsstaat oder die Errungenschaften der Wende nicht respektiert. Wahrscheinlich sollte ich betonen, dass an dem Tag, als das Parlament die neue Verfassung verabschiedet hat, weniger als 200 Menschen auf die Straße gegangen sind – ich weiß das, weil ich die Demonstration organisiert habe.

Demagogie, nicht Populismus

Orbáns größte Lüge ist diese: Er hat die Befreiung von den bürokratisierten und schlecht funktionierenden Institutionen der Demokratie versprochen, aber das Einzige, was er im Gegenzug dafür geboten hat, war nichts als persönliche Tyrannei. Der größte Gefallen, den man Orbán tun kann, ist, ihn einen Populisten zu nennen: Ihm liegt viel daran, als Anführer der Massen zu erscheinen, während er zu den Menschen selbst eigentlich kaum eine Verbindung hat. Er vertritt nicht den Willen des Volkes, er erschafft ihn. Das aber ist kein Populismus, es ist Demagogie – ein großer Unterschied.

· Linkspopulismus zur Wiederbelebung der Demokratie in Ungarn – und in der EU In seinem Buch "Was ist Populismus?" zitiert Jan Werner Müller diese berühmten Zeilen von Samuel Beckett: "Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." Müller argumentiert im Sinne eines Verständnisses von Demokratie als ständiger Krise, die das öffentliche Leben und den Diskurs dynamisiert. Diese Auslegung der Demokratie gefällt mir. Aber um sie "wieder versuchen" zu können, damit wir dann "wieder scheitern" und sogar "besser scheitern", brauchen wir Kraft und Ressourcen, wie sie für die Mehrheit der Ungarn außer Reichweite sind. Die meisten von ihnen haben nur eine einzige Chance im Leben, und wenn sie scheitern, steht ihnen nicht der Luxus des Kontemplierens und der Selbstbetrachtung zur Verfügung, weil dann nämlich schon ihre Existenz zerstört ist.

Eine Chance

Deshalb liegt im Populismus gewissermaßen eine Notwendigkeit: In meinem Land hatten die meisten Leute schon ihre Chance – eine weitverbreitete Annahme, die von den Massenmedien und den Entscheidungsträgern gerne verstärkt wird – und sind gescheitert. Die Verheißung des Populismus sieht jetzt aber so aus: Wenn wir uns mit anderen Gescheiterten vereinen, haben wir – gemeinsam – noch eine Chance auf einen weiteren Versuch.

In Ungarn, einem relativ armen Land, stehen uns noch die Ressourcen zur Verfügung, um die notwendigen Korrekturen vorzunehmen und unseren aktuellen bösen, grausamen Zustand in einen nicht grausamen und auch nicht bösen umzuwandeln. Damit ist aber nicht genug. Wir müssen eine gleichberechtigte, gerechte Gesellschaft schaffen, und das wiederum ist nur durch transnationale Zusammenarbeit möglich. Unser Ziel besteht also darin, die Institutionen des Rechtsstaats unter Einbeziehung der Menschen dahingehend zu reformieren, dass eine gleichberechtigte, gerechte Gesellschaft dabei herausschaut.

Wir leben in einem Zeitalter populistischer Demokratien. Die Frage ist, ob es in diesen populistischen Demokratien eine Wende nach links geben kann oder ob die Antworten auf die bestehenden Spannungen und Krisen nur von rechts kommen. Wir müssen die Politik nicht der Bevölkerung überlassen. Unsere Aufgabe ist vielmehr, sie einzubeziehen. (Márton Gulyás, Übersetzung aus dem Englischen: Martin Thomas Pesl, 30.7.2018)