"Wir müssen die Schule allen Kindern als neutralen Raum zur Verfügung stellen", sagt Emina Saric.

Foto: Maryam Mohammadi

Genaue Zahlen, wie viele Mädchen im Kindergarten und in der Volksschule Kopftuch tragen, gibt es im Moment nicht. Entscheidend sei aber auch nicht die Zahl, sagt Emina Saric, sondern es gehe um ein Bekenntnis des Staates dazu, dass sich alle Kinder frei entwickeln können.

Foto: Christian Fischer

STANDARD: Die Bundesregierung möchte ein Kopftuchverbot in Kindergärten und Volksschulen umsetzen. Was halten Sie davon?

Saric: Ich halte das für einen richtigen Weg, weil das Tragen der Kopftücher in traditionell muslimischen Familien praktisch tradiert wird. Mädchen werden, indem sie ihr Haar vor Männern nicht zeigen sollen, schon im Kindesalter als Sexualobjekte gesehen. Diese Sexualisierung der Mädchen gehört einfach verboten, und wenn wir an das Kindeswohl denken, haben solche Praktiken keinen Platz in unserer Gesellschaft. In stark patriarchal orientierten Familien werden Kindern eigene Werte und Sozialisierungsmerkmale aus den Herkunftsländern vermittelt, ohne ihnen einen Raum zu überlassen, sich hier in der Mehrheitsgesellschaft für neue Werte zu öffnen. Wir müssen die Schule allen Kindern als neutralen Raum zur Verfügung stellen, damit sie sich – Burschen und Mädchen, egal welcher Herkunft sie sind – frei entwickeln können. Danach können die Mädchen Kopftücher tragen, wenn das wirklich aus religiöser Überzeugung ist, aber davor muss man schauen, dass die Kinder nicht nur den Einfluss der Familie oder einer Religion bekommen, sondern auch andere Möglichkeiten und Perspektiven in der Gesellschaft. Da ist die Schule der erste Schritt, wo die Erziehung und eine weitere Sozialisierung breiter und unpersönlicher werden.

STANDARD: Sie sagen, "die Schule" soll ein neutraler Raum werden. Wären Sie also generell für eine kopftuchfreie Schule bis zum Ende der Schulpflicht oder zumindest bis zur Religionsmündigkeit mit 14?

Saric: Wenn es nach mir ginge, ja, im Kindergarten und in der Pflichtschule das Kopftuch auf jeden Fall verbieten, auch weil es die Kinder in "Wir" und "Ihr" trennt. Es gibt zu diesem Thema unterschiedliche Genderperspektiven. Ich vertrete diejenige, die das Kopftuch klar als Unterdrückungsmechanismus der patriarchalen Strukturen sieht, weil es ausschließlich den weiblichen Körper und die Kontrolle der weiblichen Sexualität betrifft. Es erscheint mir in der letzten Zeit wie ein Feldzug gegen den Frauenkörper, darum halte ich das Kopftuch für sehr fragwürdig.

STANDARD: Ist die Kopftuchfrage für Sie also mehr eine gesellschaftspolitische, feministische Frage, die man besser mit Argumenten gegen den patriarchalen Impetus dahinter führen sollte, und weniger eine religionspolitische, viele Muslime und Musliminnen würden auch sagen antimuslimische Debatte?

Saric: Aus meiner Sicht spielt der feministische Aspekt eine ganz große Rolle. Aber man kann die Religion nicht ausklammern, weil das Kopftuch ja darin verankert wird. Man bezieht sich auf Hadithe, also Überlieferungen Mohammeds, und auf den Koran, in dem es aber keine eindeutige Sure gibt, die darauf hinweist, dass Frauen Kopftücher tragen sollen, sondern sie sollen sich bedecken. Diese Frage muss aber im historischen Kontext diskutiert werden, denn in dem Umfeld, in dem sich der Islam entwickelt hat, war die Bedeckung ein Schutz für Frauen, aber dieser Schutz ist heute obsolet. Den Schutz haben Frauen heute durch den Staat und die Gesetze, die unsere Großmütter und Mütter im letzten Jahrhundert erkämpft haben, wie zum Beispiel das Wahlrecht, das Gewaltschutzgesetz und die Familienreformen aus den 70er-Jahren. Es sind die politischen Errungenschaften der Aufklärung, aber auch der Frauenbewegung, es sind Gesetze, die Frauen Schutz bieten, und nicht Relikte wie ein Kopftuch.

STANDARD: Sie arbeiten als Projektleiterin von "Heroes – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre", einer Kooperation der Frauenberatungsstelle Caritas Divan und des Vereins für Männer- und Geschlechterthemen Graz, mit jungen Männern mit Migrationshintergrund. Welche Rolle spielt das Kopftuch heute für junge Musliminnen und Muslime? Gab es da eine Veränderung im Lauf der letzten Jahre?

Saric: Ich beschäftige mich mit dem Thema schon lange und beobachte, dass in gewissen Ländern religiöse Pflichten stärker wurden. Das wirkt sich auch in Österreich auf Jugendliche aus. Wir beschäftigen uns mit Ursachen, aber auch mit den Folgen solcher Trends. Was bedeutet das für die Mädchen? Wie stark sind familiäre Zwänge oder der Druck aus der Community? Leiden Mädchen darunter? Und wie gehen ihre Brüder, Väter oder männlichen Verwandten damit um? Für viele aber ist das Kopftuch auch ein sehr rebellischer Akt, weil sie dadurch Aufmerksamkeit erregen, und irgendwann legen sie es wieder ab.

STANDARD: Und die Burschen?

Saric: Das Projektteam versucht, jene Burschen für das Projekt zu gewinnen, die sowieso aufgeschlossen sind für das Thema Gewalt im Namen der "Ehre" und den Umgang damit und die Gleichberechtigung suchen. Das Projekt Heroes arbeitet präventiv mit jungen Männern aus sogenannten Ehrenkulturen, die sich für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Frauen und Männern in der Steiermark einsetzen. Sie bekommen eine sieben- bis achtmonatige Ausbildung, damit sie an Schulen gehen und mit Gleichaltrigen über "Ehre" oder traditionsbedingte Gewalt sprechen. Die Suche ist ziemlich langwierig und schwierig, aber es gibt diese Burschen. In der ersten Phase geht es vor allem darum, überhaupt einmal Fragen zu stellen. Heroes bietet ihnen einen Zwischenraum an, in dem mehrere Perspektiven und Haltungen zulässig beziehungsweise die eigenen und fremden, patriarchalen Vorstellungen zu hinterfragen sind. Das ist in kollektivistisch geprägten Milieus überhaupt nicht leicht, weil die Burschen auch ihre Herkunft, Religion und ihre Familie sehr oft infrage stellen. Daran zu rütteln, ist sehr riskant, darum ist es wichtig, dass die Burschen, mit denen wir arbeiten, geschützt sind und bei uns Support finden.

STANDARD: Sie waren davor selbst Beraterin bei der frauenspezifischen Beratungsstelle für Migrantinnen, Divan. Aus Sicht dieser Frauen: Was würde ihnen, die in einem Umfeld leben, in dem das Kopftuch eine – mitunter eben auch zwangsweise – Rolle spielt, ein staatlich verordnetes Kopftuchverbot für Mädchen bringen?

Saric: Ich habe mit Frauen gearbeitet, die von Gewalt im Namen der "Ehre" wie Zwangsheirat sowie von traditionsbedingter Gewalt betroffen waren. Traditionsbedingte Gewalt wird in kollektivistisch-mediterranen Gesellschaften durch religiöse, traditionelle Verhaltensvorschriften und Riten tradiert und zeigt sich in psychischer Gewalt und struktureller Druckausübung, den Verhaltensnormen, Kleidungsvorschriften, Einschüchterungen und Drohungen. Aus dieser Arbeit kann ich sagen, dass für diese Frauen das Wegfallen der Zwänge – da gehört das Kopftuch für viele dazu – ein wichtiger Schritt in die Freiheit und zur Selbstbestimmung war. Die Frauen, die zu uns gekommen sind, konnten mit dem Thema Selbstbestimmung zunächst überhaupt nichts anfangen. Ihnen war zum Beispiel nicht bewusst, dass sie zwangsverheiratet sind. Es geht also zuerst darum, dass man ihr Selbstbewusstsein aufbaut und sie dann Schritt für Schritt zur eigenen Selbstbestimmung und zur Selbstbestimmung ihrer Töchter gelangen. Da ist es sehr wichtig, dass der Staat diese Frauen unterstützt, dass sie und ihre Töchter außerhalb der kollektivistischen Zwänge leben können.

STANDARD: Ein Argument, das Gegnerinnen und Gegner eines Kopftuchverbots oft vorbringen, lautet: Das sei ein absolutes Randphänomen, betreffe nur ein paar Mädchen, ein Verbot würde ein Problem angehen, das in Wirklichkeit keines ist. Was entgegnen Sie dem?

Saric: Es geht darum, dass wir für uns, für diese Gesellschaft Klarheit schaffen: Was wollen wir eigentlich? Was ist uns wichtig? Wollen wir, dass junge Mädchen aus Österreich in ihre Herkunftsländer verschleppt werden, um dort zwangsverheiratet oder "gebrochen" zu werden, weil es in unserer Gesellschaft keine Gesetze gibt, die sie schützen können? Wollen wir, dass sie durch kollektive Gebote und Riten gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen? Oder wollen wir allen Kindern und Jugendlichen einen Raum bieten, sich frei entwickeln zu können? Ein Gesetz würde klar sagen, dass wir als Gesellschaft die traditionellen diskriminierenden Verhaltensweisen kollektivistischer Gesellschaften, die sich in erster Linie gegen Frauen richten und sie in vielen Bereichen ignorieren und ausschließen, nicht akzeptieren. Da gibt es keine klare individuelle Entwicklung, da bin ich zuerst dem Kollektiv gegenüber verantwortlich für mein Verhalten. Deswegen gibt es ja Phänomene wie Ehre, Schande oder Scham, die als Instrumente der Kontrolle des Patriarchats in kollektivistischen Gesellschaften dienen. Ein Kopftuchverbot würde diese Klarheit endlich schaffen, egal ob es fünf oder zehn oder 10.000 Mädchen betrifft. Wir würden damit einen Schritt weiterkommen in der gesellschaftlichen Entwicklung von Frauen- und Menschenrechten, und wir müssten diese Debatte nicht mehr führen, falls es in den nächsten Jahren 5.000 Mädchen werden sollten. (Lisa Nimmervoll, 7.8.2018)