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Die britische Premierministerin muss sich immer mehr mit einem Hard-Brexit-Szenario auseinandersetzen.

Foto: Charles McQuillan/ Pool via Reuters

Die britische Regierung vermittelt in der Brexit-Diskussion nicht den Eindruck der Geschlossenheit. Nach dem offenbar enttäuschend verlaufenen Bittgang von Premierministerin Theresa May bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verbreitete Downing Street zu Wochenbeginn dennoch Zuversicht: Man werde mit Brüssel zu "einer guten Vereinbarung" kommen.

Einzelne Minister malen hingegen drohend den Chaos-Brexit, also einen EU-Austritt ohne jede Vereinbarung, an die Wand. Die Aussicht darauf steige täglich, teilte Außenminister Jeremy Hunt mit. Sein Kollege fürs Außenhandelsressort, Liam Fox, bezifferte die Möglichkeit dieses sogenannten No-Deal-Brexits mit 60 zu 40.

Sollte es zu einem chaotischen Austritt kommen, trüge Brüssel die Schuld, teilte Fox der Sunday Times mit: Die EU-Kommission sei "mehr an europäischer Ideologie interessiert als am wirtschaftlichen Wohlergehen der Menschen". Am Montag zitierte Daily Telegraph eine hochrangige Regierungsquelle, wohl Fox: Brüssel schulde Großbritannien geradezu einen Austrittsvertrag samt Anschlussvereinbarung. So sehe es der Vertrag von Lissabon vor, in dem von "guter Nachbarschaft" die Rede ist. Der modifizierte EU-Verfassungsvertrag wurde von britischen EU-Verächtern wie Fox bisher stets abgelehnt.

Keine Zugeständnisse

Beim Treffen mit Macron in Fort de Brégançon an der Côte d'Azur hatte May am Freitagabend für einen engen Assoziationsstatus geworben, wie ihn das kürzlich vorgelegte Weißbuch der Regierung vorsieht. Konkrete Zugeständnisse gab es offenbar nicht.

Ausdrücklich will der eingefleischte EU-Feind Fox das sehr öffentliche Gerede über ein Scheitern der derzeit unterbrochenen Brexit-Verhandlungen als Druckmittel verstanden wissen: "Dadurch wird unsere Verhandlungsposition täglich stärker."

Implizit droht London damit, auch die bereits getroffenen Vereinbarungen rückgängig zu machen. Dazu gehören Zahlungen von mindestens 40 Milliarden Euro langfristig eingegangener Verpflichtungen, die Sicherstellung der Rechte von rund 3,5 Millionen EU-Bürgern auf der Insel sowie eine Übergangsphase bis Ende 2020, in der Großbritannien praktisch EU-Mitglied ohne Stimmrecht bleiben will. Besonders letztere Maßnahme war von Wirtschaft und Industrie lautstark gefordert worden.

Planen für den Ernstfall

Lobbyorganisationen sowie große Firmen sind von der Aussicht auf den No-Deal-Brexit alarmiert. So fordert Carolyn Fairbairn vom Industrieverband CBI, London und Brüssel müssten die geplante Übergangsphase "so rasch wie möglich juristisch absichern". Andernfalls drohten Jobverluste und Investitionsstopps.

Stephen Martin vom Lobbyclub IoD, der traditionell kleinere und mittlere Unternehmen vertritt, forderte die Regierung dazu auf, rasch technische Noten für den Ernstfall zu publizieren, wie sie die EU-Kommission bereits seit einigen Monaten herausgibt.

"Dies würde Unternehmen darauf hinweisen, dass entsprechende Vorkehrungen dringlich sind", teilte Martin mit. Eine neue IoD-Studie legt den Schluss nahe, dass die Mitglieder bisher schlecht präpariert sind.

Massive Einbußen befürchtet

Dabei lassen Prognosen ernstzunehmender Ökonomen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Demnach würden große Mitglieder wie Deutschland und Frankreich Einbußen von bis zu einem Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts erleiden, wenn der Handel mit der siebentgrößten Volkswirtschaft der Welt kompliziert oder gar zeitweise abgeschnitten würde.

Betroffen wären beispielsweise wichtige Autokonzerne wie BMW oder Nissan-Renault. Dieselben Gutachten sagen der Insel einen katastrophalen Konjunktureinbruch von bis zu vier Prozent voraus.

Wie der Chaos-Brexit aussehen könnte, verdeutlichten Unternehmen und Kommunen anhand konkreter Beispiele. So erwartet die Verwaltung der Grafschaft Kent, dass sich binnen weniger Tage nach dem Austrittsdatum Ende März 2019 Tausende von Lastwagen beiderseits der Kanalhäfen stauen würden. Andere Bezirksämter befürchten Lebensmittel-Krawalle, die auch der britische Amazon-Chef Douglas Gurr ins Spiel gebracht hat.

Sorge vor Chaos

Zum Chaos-Brexit meldete sich kürzlich auch der Zentralbank-Gouverneur Mark Carney zu Wort: Dieser wäre "überhaupt nicht wünschenswert" (highly undesirable); dennoch sei die Möglichkeit, dass es dazu kommt, "unangenehm groß" (uncomfortably high). "Die Verhandlungspartner sollten alle Anstrengungen unternehmen, dass es nicht dazu kommt", sagte Carney der BBC. Die Äußerungen führten an der Börse zu Verlusten für das Pfund.

Von Brexit-Ultra Jacob Rees-Mogg musste sich Carney daraufhin als "übermäßiger Pessimist" beschimpfen lassen: Der Gouverneur habe durch "falsche und politisch motivierte Vorhersagen" die Reputation der Bank von England beschädigt. Die hohe Nervosität der Hardliner dürfte damit zusammenhängen, dass die Briten erstmals über die möglichen Folgen des von Rees-Mogg befürworteten No-Deal-Brexit nachgedacht haben. Umfragen zufolge schnellte die Zahl jener, die sich den Fortbestand der EU-Mitgliedschaft wünschen, nach oben.

Farage vor Polit-Comeback?

Unterdessen erwägt der frühere Ukip-Chef Nigel Farage ein politisches Comeback. Weil die Labour-Abgeordnete von Peterborough mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, könnte es dort im September zu einer Nachwahl kommen. Die Region stimmte mit 61 Prozent für den Brexit, weshalb Farage sich Chancen ausrechnen kann, im achten Anlauf ins Unterhaus einzuziehen. (Sebastian Borger aus London, 6.8.2018)