In den nächsten Monaten müssen viele Österreicher mit türkischen Wurzeln mit einer für sie gravierenden Entscheidung rechnen.

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Auf eine konkrete Zahl will sich Werner Sedlak nicht festlegen. Auf die Frage, wie viele Fälle in den kommenden Monaten entschieden werden, sagt der Leiter der Wiener Behörde für Staatsbürgerschaftsangelegenheiten (MA 35) nur so viel: "Es sind sehr viele."

Sehr viele Österreicher mit türkischen Wurzeln müssen sich in Wien derzeit also darauf gefasst machen, bald eine Nachricht von der Behörde zu bekommen, die ihr Leben gravierend verändern wird.

Nicht mehr Österreicher

So war es auch bei Herrn XY, wie er in der Gerichtsentscheidung vom 1. August 2018 genannt wird, die dem 56-Jährigen am Mittwoch zugestellt worden ist. Herr XY kam vor 31 Jahren als 25-Jähriger nach Österreich und lebt seither hier. Seit 27 Jahren ist er österreichischer Staatsbürger. Oder war es: "Republik Türkei / staatenlos" steht oben links auf dem schriftlichen Urteil des Landesverwaltungsgerichts Wien, das die Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft bestätigt. Dem Wiener, der beteuert, niemals einen Antrag auf Wiedererlangung der türkischen Staatsbürgerschaft gestellt zu haben, wurde nicht geglaubt. Per Bescheid ist er also seit 18. Mai 2017 nicht mehr österreichischer Staatsbürger. Sollte er tatsächlich auch die türkische Staatsangehörigkeit nicht besitzen oder inzwischen zurückgelegt haben, ist er also staatenlos.

Ähnliche Entscheidungen ergingen auch in zwei anderen Fällen in Wien und in einem weiteren Fall in Vorarlberg. Weitere Urteile in anderen Ländern dürften folgen.

Die Urteile haben nicht nur für die direkt Betroffenen und ihre Familien massive Auswirkungen. Sie werden auch Tempo in die vielen Verfahren bringen, die derzeit in der Warteschleife hängen. "Wir bemühen uns, das mit Volldampf zu machen", sagt MA-35-Leiter Sedlak. Die Gerichtsentscheidungen geben der Behörde Rückendeckung. Bisher war nämlich unklar, wie viel man von den mutmaßlichen Doppelstaatsbürgern verlangen darf: Müssen sie einen vollständigen Personenstandsauszug aus der Türkei beischaffen, oder muss man ihnen glauben, dass sie ein solches Dokument zwar angefordert, aber nicht erhalten haben?

Wehe dem, der nicht mithilft

Das Gericht sagt dazu eindeutig: Nein, man muss es ihnen nicht glauben. In diesen Verfahren gelte nämlich eine "besondere Mitwirkungspflicht", weil die türkischen Behörden ja mit den österreichischen nicht gern kooperieren. Das Amt in Wien sei daher darauf angewiesen, dass die Betroffenen selbst in ihrer alten Heimat auf die Herausgabe der geforderten Beweismittel drängen. Und das sei in den drei entschiedenen Fällen eben nicht passiert. Herr XY, so heißt es, habe es sogar verabsäumt, eine Negativbescheinigung vorzulegen – also ein Dokument, aus dem klar hervorgeht, dass er zwar versucht hat, den Registerauszug zu erhalten, ihm dies aber verweigert wurde.

Zudem stützen sich sowohl MA 35 als auch der Richter des Verwaltungsgerichts auf die Tatsache, dass es ehemaligen türkischen Staatsbürgern in anderen Fällen sehr wohl möglich war, einen solchen Auszug zu erhalten. Da Herr XY die Mitwirkungspflicht nicht erfüllt und nicht dargelegt habe, dass er kein türkischer Staatsbürger mehr sei, müsse man also davon ausgehen, dass er irgendwann im Lauf der vergangenen 27 Jahre wieder in den türkischen Staatsverband eingetreten sei. Aber wann? Hier stützt sich die Behörde auf den einzigen zeitlichen Anhaltspunkt, den es im Verfahren gab – und das ist jener Tag, an dem die FPÖ die ominöse Liste potenzieller Doppelstaatsbürger vorgelegt hat: der 18. Mai 2017.

Gericht erwartet Beschwerdeflut

Im Wiener Verwaltungsgericht stellt man sich nun auf eine massive Flut an weiteren Bescheidbeschwerden ein. Präsident Dieter Kolonovits klagt im STANDARD-Gespräch von einer "unglaublichen Zusatzbelastung", für die er jedenfalls zusätzliches Personal benötige. Gespräche mit der Stadt Wien seien im Laufen. Sollten sie ergebnislos bleiben, drohe das Gericht zum "Flaschenhals" in der Abarbeitung der Fälle zu werden.

Auch in Vorarlberg wurde die Behörde durch das Gericht bestätigt. In dem Fall war eine Pensionistin aufgefordert worden, dem Gericht eine Vollmacht zu geben, im Namen der Betroffenen Auskünfte einzuholen. Da sie das verweigerte, wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt. Gegen die Urteile können die Betroffenen kein ordentliches Rechtsmittel einlegen. (Maria Sterkl, 9.8.2018)