Die Erben wollen, dass die Pfandrechte aus dem Grundbuch gelöscht werden. Niemand weiß, wie weit zurück das Gesetz gilt.

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Anita Bauer leitet seit Ende Mai den Fonds Soziales Wien.

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Ich halte das Gesetz zur Abschaffung des Pflegeregresses für kein gutes Gesetz", kritisiert die Geschäftsführerin des Fonds Soziales Wien (FSW), Anita Bauer, im Gespräch mit dem STANDARD. Bauer, diplomierte Sozialarbeiterin, folgte Ende Mai Peter Hacker, der nach dem Bürgermeisterwechsel in Wien Stadtrat für Gesundheit, Soziales und Sport wurde. Sie befürwortet das Regressverbot, "aber es fehlen die Durchführungsbestimmungen", also die Vorgaben, wie das Gesetz in der Praxis anzuwenden sei – was die Regierung noch immer machen könnte.

Darüber hinaus kritisiert Bauer das rückwirkend geltende Urteil des Obersten Gerichtshofs (OGH), wonach das Verbot des Pflegeregresses auch Sachverhalte vor Inkrafttreten des Pflegeregressverbotes erfasst. Seit Jahresbeginn ist, wie berichtet, der Zugriff auf Vermögen von Heimbewohnern, Angehörigen und Erben nicht mehr zulässig, auch wenn die Leistung vor Jahresbeginn erbracht wurde.

Erben klagen

Das Höchstgericht hat im Juni ein rückwirkend geltendes Urteil gefällt, ohne zu definieren "wie weit rückwirkend gemeint ist – sind das zehn oder nur zwei Jahre?", fragt sich Bauer. Die FSW-Chefin geht jedenfalls davon aus, dass Erben klagen: Nämlich jene, die sagen: "Ihr habt vor 20 Jahren meine Mutter gepflegt und seid noch immer im Grundbuch."

Ebenso unklar sei, welche Rechtstitel von der Gesetzesänderung betroffen sind. Der FSW habe rund 20 Verfahren laufen, einige wurden bereits eingestellt, man arbeite sich Schritt für Schritt vor und überlege, im Einzelfall nach Urteilen auch Rechtsmittel einzubringen. "Wir gehen erst aus den Grundbüchern, wenn wir zu 100 Prozent sicher sind, dass alles rechtens ist, schließlich arbeiten wir ja mit Steuergeld", argumentiert Bauer.

In der Steiermark gibt es mittlerweile bereits einen Antrag auf Einstellung eines Exekutionsverfahrens, in dem festgehalten wird, dass die "gegenständliche Exekutionsführung in gesetzwidriger Weise erfolgt". Die Verlassenschaft datiert aus dem Jahr 2010, die Forderung liegt bei über 7.000 Euro. Die Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg bat Mitte Juli um eine Fristverlängerung bis 31. August 2018, "da die unklare Rechtslage noch mit der Fachabteilung der Steiermärkischen Landesregierung abgeklärt werden muss".

Rechtsunsicherheit

Erbrechtsanwalt Alexander Hofmann aus Wien zeigte sich im STANDARD-Gespräch zwar überzeugt, dass die Erben letztendlich die Löschung des Pfandrechts im Grundbuch erstreiten werden. "Es ist die logische Konsequenz aus dem OGH-Urteil. Allerdings ist die bestehende Rechtsunsicherheit für die Erben unbefriedigend, wenn diesen die Liquidität für die sofortige Lastenfreistellung fehlt und die Erben jetzt noch nicht abschätzen können, ob sie die Immobilie behalten können. Außerdem stört der rechtliche Schwebezustand die Abwicklung laufender Verkaufsprozesse", argumentiert Hofmann.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, dafür sind fehlende Übergangsbestimmungen aus der Zeit der rot-schwarzen Regierung verantwortlich, die die Abschaffung des Pflegeregresses am Ende ihrer politischen Laufzeit noch durchpeitschte. "Auch die aktuelle Bundesregierung hat noch immer keine rechtliche Klarheit geschaffen. Hätte der Gesetzgeber klargestellt, bis Ende 2017 gilt der Pflegeregress mit all seinen bisherigen Folgen, für Fälle ab 2018 aber nicht mehr, hätte es kein OGH-Urteil gebraucht", betonte die FSW-Chefin. Der Fonds Soziales Wien wird nun auch eingegangene Zahlungen aus noch nicht rechtskräftigen Titeln, die 2018 geleistet wurden, nach und nach zurückzahlen.

Viele Neuanträge

Allein in Wien stieg die Zahl der Neuanträge auf stationäre Pflege und Betreuung seit dem Verbot des Pflegeregresses im ersten Halbjahr 2018 um 34 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2017. Im Vorjahr bezogen insgesamt 59.430 Wiener geförderte Pflege- und Betreuungsleistungen. 22.260 in einer stationären Einrichtung ("Wohnen und Pflege"). Im Vorjahr mussten insgesamt 4.736 Kunden Zahlungen aus dem Vermögensregress leisten: 1.309 zu Lebzeiten aus dem Vermögen, 3.427 aus der Verlassenschaft.

Laut FSW gibt es rund 400 pfandrechtliche Sicherstellungen, was nicht unbedingt mit der Anzahl der betroffenen Grundbücher übereinstimmen muss.

Hohe Folgekosten

Für Bauer steht fest, dass mit Abschaffung des Pflegeregresses der Anteil aus dem Finanzausgleich größer werden müsse. Unter anderem auch weil bisherige Selbstzahler (ohne Förderung) jetzt beim FSW vorstellig werden und finanzielle Unterstützung beanspruchen. Für 2018 rechnet der FSW mit Folgekosten durch das Regressverbot in Höhe von 111,3 Millionen Euro.

Der Einnahmenentfall für 2018 wird mit 37,2 Millionen Euro (2017 betrugen die Einnahmen aus dem Regress rund 35 Millionen Euro) beziffert. An ausgabenrelevanten Folgewirkungen werden 74,1 Millionen Euro genannt. Das seien etwa mehr Neuanträge, auch von bisherigen Privatzahlern, und der Mehraufwand in der mobilen Pflege). Noch nicht eingerechnet sind Folgekosten aufgrund der fehlenden Durchführungsbestimmungen.

Finanzminister Hartwig Löger hielt Ende Juni in einer Aussendung fest: Der Beschluss zur Abschaffung des Pflegeregresses sei im Vorjahr "überhastet" getroffen worden, bis Anfang 2019 wolle er die offene Frage zur Gegenfinanzierung der Länderausgaben aber klären. Für heuer gab der Bund den Ländern eine Finanzierungszusage zur Verlustabdeckung über insgesamt 340 Millionen Euro in der Causa Pflegeregress. (Claudia Ruff, 13.8.2018)