Wir kaufen, was die Werbung uns sagt. Zu viel Zucker, zu viel Fett und zu viel Fertignahrung machen die Menschen krank. Sie werden anfällig für Diabetes, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Foto: istockphoto

Es gibt Einflussfaktoren auf unsere Gesundheit, die Konsumenten nicht bewusst sind. Worauf haben wir Lust, wenn wir Hunger haben? Oder was essen wir, obwohl wir vielleicht gar nicht hungrig sind? "Es sind die vielen kleinen Entscheidungen, die den Menschen die Illusion vermitteln, sie wären selbstbestimmt", sagt Ilona Kickbusch und meint damit durchaus auch den täglichen Einkauf im Supermarkt. Sie ist Expertin für Global Health, hat 40 Jahre lang bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gearbeitet und lehrt heute am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf.

Seit Anfang des Jahres ist sie Mitglied einer WHO-Kommission für die Eindämmung nichtübertragbarer Krankheiten, Non-communicable Diseases (NCD) im Fachbegriff. Was das mit dem Essen zu tun hat? Ungesunde Ernährung durch zu süße, zu fette oder zu salzige Produkte ist ein Phänomen der modernen Industriegesellschaft.

Problem in der Zukunft

Dort florieren Erkrankungen wie Fettsucht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Experten mahnen vor einem massiven Anstieg der Patientenzahlen, und nicht wenige meinen, es wäre die größte Herausforderung für unsere Gesellschaft. Und das auf mehreren Ebenen: Für die betroffenen Menschen selbst – Übergewicht etwa triggert eine ganze Reihe von anderen schweren Erkrankungen, macht die Menschen unbeweglich und als Folge davon nicht selten auch depressiv.

Doch die sogenannten Industrial Epidemics sind auch für die Gesundheitssysteme selbst, die die Kosten für Behandlungen der vielen Erkrankungen zu tragen haben, ein zukünftiges Problem. Diabetes zum Beispiel kann zu Erblindung führen oder zu Amputationen, die Menschen fallen aus dem Arbeitsprozess und brauchen massive Unterstützung von den Sozialsystemen. Wer und wie diese zukünftig finanziert werden sollen, ist alles andere als klar.

"Alles eine Sache der Eigenverantwortung", sagen heute zunehmend mehr Politiker, haben Ilona Kickbusch und ihre Public-Health-Kollegen beobachtet und finden, dass sich die Politik damit aus der Verantwortung zieht. Die Gesundheitsexpertin ist in Fragen der Selbstverschuldung bei Krankheiten ganz anderer Meinung. Nichtübertragbare Erkrankungen wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind ein Phänomen der industrialisierten Gesellschaften, sagt sie. Es ist das Lebensumfeld, also die Industrie, die krank macht. Wo, wenn nicht im Supermarkt sollen die Menschen einkaufen.

Wofür es Evidenz gibt: Sobald ein Land dieser Erde wirtschaftlich einen gewissen Wohlstand erreicht und damit "westliche Lebensstilprodukte" Einzug halten, lässt sich die rapide Zunahme von Adipositas und Zuckerkrankheit statistisch ganz klar feststellen.

Industrie macht krank

Vor drei Jahren hat die WHO deshalb einen neuen Terminus für dieses Phänomen vorgeschlagen: die sogenannten "commercial determinants for health", also die kommerziellen Bestimmungsgrößen für Gesundheit. Sie sind für die Zunahme nichtübertragbarer Erkrankungen maßgeblich verantwortlich.

Es ist das stark zuckerhaltige Essen, das krank macht, allen voran Fertiggerichte und Süßgetränke, die Hersteller mit geballter Marketingmacht auf die Märkte bringen. "Es ist schwer für jene, die sich für die öffentliche Gesundheit einsetzen, gegen die vollkommen falschen und unrealistischen Botschaften der Werbung anzukommen", sagt Kickbusch und formuliert so das Dilemma.

Ihr Fazit: Über Steuern lassen sich ungesunde Lebensmittel regulieren, diese Entwicklung hat bereits begonnen. Doch in Zukunft müsse man sich viel stärker mit den Investment-Strategien der globalen Lebensmittelkonzerne auseinandersetzen. Die Konsumgüterindustrie sei nämlich jene, mit der am globalen Finanzmarkt am schnellsten Geld zu verdienen sei, so Kickbusch.

Neue Epidemie

Besonders die großen, institutionellen Anleger wie die US-Pensionsvorsorgekassen sind an den High-Return-Aktien der Konsumgüterindustrie interessiert. "Ein ethisches Problem für die Pensionsversicherungen", nennt es Kickbusch, denn sie investieren in jene Unternehmen, die nachweislich dazu führen, dass die Menschen krank werden. Genau diese kranken Menschen verursachen dann Mehrkosten, für die die Versicherungen und Gesundheitssysteme aufkommen müssen, erklärt sie den verborgenen Zusammenhang. "Im Bereich Public Health müssen wir viel stärker in Kategorien von Investments denken und den globalen Kapitalmarkt verstehen", mahnt sie. Mittlerweile hat eine Reihe von großen, institutionellen Investoren auf diese Erkenntnis reagiert, kann sie berichten.

Gegen die Industrial Epidemics müsse man aber noch eine Reihe anderer Maßnahmen entwickeln, sagt sie. Diabetes und Fettsucht seien "von Profitgedanken verursachte Erkrankungen", so formuliert es auch die WHO in einem richtungsweisenden Artikel in der medizinischen Fachzeitschrift "Lancet", die industriell verursachten Epidemien werden sich weiter global verbreiten. Dafür gibt es auch schon ganz klare Vorzeichen. Die Lebenserwartung in den USA hat in den letzten Jahren nachweislich abgenommen, kann Kickbusch berichten und sieht es als Beweis für eine Dynamik, die für Normalverbraucher kaum zu durchschauen ist.

"Die Entscheidung, was im Supermarkt im Wagen landet, ist sehr individuell", sagt sie. Da geht es darum, was schmeckt oder welches Produkt durch die Werbung die Aufmerksamkeit der Konsumentinnen erlangt hat. Sicher ist: Über den Finanzmarkt denkt beim Einkaufen wohl kaum jemand nach. Und deshalb wäre dies die Aufgabe der Politik.

Politik und Tabakindustrie

Als Teil der Konsumgüterindustrie ist am globalen Finanzmarkt allerdings auch mit Tabak weiterhin viel Geld zu verdienen. Auch in dieser Sparte gibt es diese sogenannten High-Return-Aktien, die für Anleger überaus attraktiv sind. "Wir haben Hinweise, dass die Tabakindustrie rund um den Globus rechte Parteien unterstützt", sagt Kickbusch. Es kann kein Zufall sein, dass die meisten dieser Rechtsparteien Rauchgesetze zurückfahren und damit Raucher als Kernwählergruppe unterstützen.

Rechte Politiker, so haben die Experten für Public Health erkannt, pochen stets auf das Recht der freien Entscheidung, ähnlich wie es auch beim Impfen geschieht. Politikern, denen die Gesundheit ein Anliegen ist, müssten aber auf gesunde Rahmenbedingungen setzen, die die Menschen eben nicht fett, zuckerkrank und nikotinabhängig machen, so Kickbusch. (Karin Pollack, 26.8.2018)