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Die Flüchtlinge an Bord des Schiffes Diciotti durften am Sonntag italienischen Boden betreten.

Foto: REUTERS/Antonio Parrinello

Das Ende des Dramas rund um das Flüchtlingsschiff Diciotti hat zwar Erleichterung für die betroffenen Menschen gebracht, aber keine nachhaltige Lösung für das Problem. Bald wieder werden Migranten von Rettungsschiffen aus dem Wasser gefischt werden, die dann in Europa an Land gehen wollen – was nicht nur der italienische Innenminister Matteo Salvini verhindern will. Auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen ihn werden den Lega-Politiker nicht von seinem Kurs abbringen, für den er viel Unterstützung aus der Bevölkerung erhält.

Der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer mag aktuell für die EU-Staaten nicht das größte Problem sein, aber es ist sicherlich das emotionalste und das komplizierteste. Es stellt die Union vor ein fast unlösbares Dilemma: Wie kann sie den Wunsch ihrer Bürger nach kontrollierter Zuwanderung und geschützten Grenzen erfüllen und dabei dennoch ihre ethischen Werte verteidigen? Darüber tobt seit Jahren in allen Staaten eine Debatte, die vor allem in Form des gegenseitigen Anschreiens geführt wird. Auf der einen Seite hetzen Rechtspopulisten gegen Migranten, Multikulturalismus und die EU. Auf der anderen Seite beschuldigen die Zuwanderungsbefürworter jeden, der für Restriktionen eintritt, lautstark des moralischen Versagens und des Rechtsbruchs. Was all die Brüller übersehen: Es gibt hier kein Richtig und Falsch, sondern legitime Argumente auf beiden Seiten. Die werden im selbsterzeugten Lärm allerdings von den anderen kaum gehört.

Natürlich kann man Menschen nicht absichtlich ertrinken oder Flüchtlinge tagelang unter katastrophalen Bedingungen auf einem Schiff darben lassen. Aber es ist auch nicht hinzunehmen, dass sich jeder Afrikaner mit 10.000 Dollar in der Tasche und großer Leidensbereitschaft mithilfe von Schleppern eine Eintrittskarte in die EU erkaufen kann.

EU-Staaten benötigen allein aus demografischen Gründen Zuwanderer, aber sie müssen sich diese selbst aussuchen dürfen. Politisch Verfolgte haben ein Recht auf Asyl, doch dieses darf von anderen Migranten nicht missbraucht werden. Die EU braucht eine gemeinsame Asyl- und Zuwanderungspolitik, aber der Ruf danach soll die Union nicht spalten. Europa muss tolerant und offen bleiben, ohne dass eine demokratische Reaktion das Gegenteil bewirkt.

Für all diese Widersprüche gibt es keine einfachen Lösungen, auch wenn Linke und Rechte dies mit Leidenschaft vorgeben. Das ist auch der Fehler von Kanzler Sebastian Kurz, der zwar weniger laut schreit, dafür aber gerne simple Rezepte präsentiert, die genauso wenig umsetzbar sind.

Für eine sinnvolle Migrationspolitik auf nationaler und europäischer Ebene müssen beide Seiten von ihren Maximalpositionen Abstriche machen, kann weder jeder Flüchtling aufgenommen noch jeder abgewiesen werden. Und dorthin gelangt man nur über eine ruhige Diskussion, in der auf Zorn und Schuldzuweisungen verzichtet und der anderen Seite zugehört wird.

Vielleicht braucht es einen großen europäischen Konvent, auf dem unterschiedliche Experten und Interessenvertreter Migrationsrichtlinien ausarbeiten, die moralisch, rechtlich und politisch akzeptabel sind. Der richtige Zeitpunkt dafür wäre jetzt, da die Zahl der Flüchtlingsankünfte so niedrig ist. Wenn die nächste große Flüchtlingswelle eintritt – und die kommt bestimmt –, dann schwindet die Chance für eine vernünftige Debatte. (Eric Frey, 26.8.2018)