Kann auch eine lesbische Feministin und Stardenkerin zur Täterin werden? Eine Klage gegen Avital Ronell wird nun vom Gericht geprüft.

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Die Geschichte gibt längst den Stoff für einen Film her oder zumindest für einen Campusroman à la "Small World", nur unter ganz anderen Vorzeichen. Eine Gemeinsamkeit aber gibt es: So wie in David Lodges 1985 erschienenem Klassiker des Genres gehören auch hier Anhänger der philosophischen Schule des Dekonstruktivismus zu den Protagonisten. Doch im Unterschied zu den fiktiven heterosexuellen Liebeleien von Vertretern des geisteswissenschaftlichen Jetsets der 1980er-Jahre sind die aktuellen Hauptdarsteller eine heute 66-jährige Professorin in New York, die bekennende Feministin ist und als sexuelle Identität "queer" angibt, sowie ihr schwuler Dissertant, heute 34.

Statt erotischer Tändeleien zwischen Frauen und Männern wie in "Small World" findet die Erotik in den 2010er-Jahren vor allem in Form von Texten statt und ist – je nach Perspektive – bloß Teil eines Sprachspiels oder sexuelle Belästigung. Aus der Ironie und Selbstreflexivität des Romans ist drei Jahrzehnte später ein bitterernster Streitfall geworden, in dem es um Macht und ihren Missbrauch geht, um akademische Karrieren und Starintellektuelle – mithin um #MeToo unter umgekehrten Vorzeichen und in einem anderen Milieu.

Unterhaltungsindustrie und Universitäten

Standen in den vergangenen Monaten zunächst sexuelle Belästigungen und Gewalt in der Unterhaltungsindustrie, dann auch in Sport und Politik im Zentrum des medialen Interesses, so rückt der Streitfall zwischen Avital Ronell und ihrem Studenten Nimrod Reitman die Zustände an Universitäten ins Licht. Und obwohl gerade US-Hochschulen eine Vorreiterrolle in Sachen politischer und auch sexueller Korrektheit zukam, scheinen dort die realen Verhältnisse nicht so verschieden von Hollywood.

Seinen Anfang nahm der Fall Ronell/Reitman, der längst weit über das akademische Milieu hinaus für Diskussionen sorgt, vor mehr als sechs Jahren: Reitman war damals in der privilegierten Lage, dass er von mehreren US-Eliteuniversitäten Angebote für ein Dissertationsstudium hatte. Er entschied sich für die nicht ganz so elitäre New York University (NYU), weil dort die Literaturwissenschafterin und Germanistin Avital Ronell lehrte, eine angesehene Schülerin des französischen Philosophen und Chef-Dekonstruktivisten Jacques Derrida. (Laut der Derrida-Biografie von Benoît Peeters hatte die damals 27-Jährige übrigens auch eine "Liebesgeschichte" mit Derridas Sohn Pierre, der damals noch nicht 17 war – Tempi passati.)

Die Doktormutter und ihr Student

Laut Reitman begannen die Probleme im Frühjahr 2012, als ihn die Professorin einlud, einige Tage mit ihm in Paris zu verbringen. Die Professorin habe ihm damals im Schlafzimmer gebeten, Gedichte vorzulesen und sich dann auch zu ihr ins Bett zu legen. Und es sei laut Reitman auch zu körperlichen Berührungen gekommen, die Ronell aber immer abstritt. Trotz dieses erotisch aufgeladenen Präludiums nahm Reitman das Studium bei Ronell auf und schloss es 2015 erfolgreich ab. Der beziehungsreiche Titel der Dissertation lautet: "On the Serious Motherhood of Men: Dissonance in Music, Rhetoric, and Poetry".

Darin dankt Reitman noch "der wundervollsten Doktormutter" für "ihr unaufhörliches Zuhören bei allen meinen Launen". Zwei Jahre später, noch vor dem öffentlichkeitswirksamen Beginn der #MeToo-Bewegung, hat sich die "sensible Unterstützung" (so die Danksagung in der Dissertation) für Reitman im Rückblick in ihr Gegenteil verkehrt und fast schon Harvey-Weinstein-artige Formen angenommen. Der Jungdoktor reichte nämlich Klage gegen Ronell bei der NYU nach "Title IX" ein, jenem Bundesgesetz, das sexuelle Diskriminierung im Bildungswesen verhindern soll, und führt darin unter anderem an, dass ihn die Professorin während des gesamten Dissertationsstudiums sexuell und emotional bedrängt habe.

"Cock-er Spaniel" und "schöner Nimrod"

Ausführlichst wird in der umfangreichen Klageschrift über Küssen und Berührungen berichtet sowie aus der Korrespondenz zwischen Lehrerin und Schüler zitiert: Ronell bezeichnete Reitman darin unter anderem als ihren "Cock-er Spaniel" oder "schönen Nimrod", forderte von ihm, sich zumindest telefonisch ständig zur Verfügung zu halten, um ihre explizit formulierten emotionalen Bedürfnisse zu erfüllen. Sollte er sich dem nicht fügen, so drohte laut Reitman als Strafe die Nichtförderung seiner akademischen Karriere.

Ronell stritt die Vorwürfe nur zum Teil ab: Zu physischer Belästigung sei es nie gekommen. Die zahllosen zitierten Belege für verbale Übergriffe und Belästigungen hingegen tut sie – mit Griff in die dekonstruktivistische Trickkiste – als "schwul kodierte" Sprachspiele ab, die sich nun einmal durch eine schwülstig-kitschige Ausdrucksweise auszeichnen würden.

Eine fragwürdige Solidarisierung

Die Denkerin erhielt zudem einflussreiche Unterstützung – und diese peinliche Solidaritätsaktion machte den komplizierten Fall erst richtig publik. Nachdem in intellektuellen Zirkeln ruchbar geworden war, dass die NYU ein Verfahren gegen Ronell eingeleitet hatte, unterzeichneten im Mai dieses Jahres 51 höchst prominente Philosophen und Intellektuelle (unter anderen Feminismusikone Judith Butler, Radikaldenker Slavoj Žižek und Postkolonialismuspionierin Gayatri Spivak) einen Brief an die Universitätsleitung.

Darin gestanden sie zwar ein, die Anschuldigungen im Detail nicht zu kennen. Doch sie forderten für Ronell eine milde Behandlung, weil sie eine Frau, Feministin und eine großartige Denkerin sei. Man stelle sich so eine Argumentation im Fall von Harvey Weinstein vor! (Dass die 51 Intellektuellen glaubten, dass ihre Lobbying-Aktion vertraulich bleiben würde, macht sie nicht besser. Immerhin hat sich Judith Butler mittlerweile von einigen der darin angeführten Argumente distanziert.)

Mildes Urteil und eine neue Klage

Ob dieser Brief das Urteil der Kommission an der NYU beeinflusste, ist nicht ganz klar. Das Urteil fiel jedenfalls einigermaßen milde aus: Die universitäre Kommission sprach Ronell von den Vorwürfen der physischen sexuellen Belästigung frei, sie wurde von ihrer Uni für ein Jahr beurlaubt, beginnend mit dem kommenden Semester. Reitman, der zwar keine bezahlte Uni-Stelle erhielt, aber doch an der Harvard University forscht, war dieses Urteil nicht streng genug: Am 16. August reichte er am Supreme Court des Bundesstaats New York eine weitere Klage ein, diesmal auch gegen die NYU. Nun geht es um Schadenersatz und viel Geld.

Die Moral der Geschichte? Abgesehen davon, dass der Fall Ronell/Reitman in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall ist, führt er vor Augen, dass persönliche Beziehungen und das Starprinzip im akademischen Betrieb – und gerade auch in bestimmten Bereichen der Geisteswissenschaften – für Karrieren ähnlich wichtig sind wie in der Unterhaltungsindustrie oder im Sport. Das gilt natürlich auch für hiesige Unis – mit der etwas zynischen Einschränkung, dass der universitäre Massenbetrieb hierzulande allzu enge Betreuungsverhältnisse etwas unwahrscheinlicher macht. (Klaus Taschwer, 29.8.2018)