Nicht alle Kinder und Jugendlichen beginnen dieser Tage wieder die Schulbank zu drücken. Immer mehr werden von ihren Eltern von der Schule ab- und zum häuslichen Unterricht angemeldet. Denn in Österreich kann die allgemeine Schulpflicht auch im Rahmen des häuslichen Unterrichts oder an Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht erfüllt werden. Es ist eine Lebensform, die stetig beliebter wird: Innerhalb der letzten fünf Jahre ist die Gruppe um etwa 500 Kinder gewachsen. 2.320 Kinder waren es im Schuljahr 2017/18. Für das aktuelle Schuljahr liegen laut Bildungsministerium noch keine Daten vor.

Die Szene ist nicht homogen. Manche Eltern nutzen diese Regelung seit Jahren, um ihre Kinder in reformpädagogische Schulen zu schicken, von denen sich viele auch um die Verleihung eines Öffentlichkeitsrechts bemühen. Andere betreiben "Homeschooling" und unterrichten ihre Kinder aus religiösen Gründen zu Hause. Eine in den letzten Jahren wachsende Untergruppe ist diejenige der "Freilerner" oder "Unschooler": Die Kinder bleiben zu Hause bei den Eltern – doch es gibt meist keinen fixen Tagesablauf, keinen Lehrplan und keine konkreten Bildungsziele.

Jährliche Überprüfung

Das "Netzwerk der Freilerner", bei dem viele Fäden der Szene zusammenlaufen, beschreibt Freilernen gegenüber dem STANDARD folgendermaßen: "Selbstbestimmtes Lernen ist keine Methode bzw. kein Konzept, sondern das Ergebnis einer respektvollen Haltung gegenüber jedem einzelnen jungen Menschen. Der junge Mensch äußert selbst klar, auf welche Art und Weise und wo er sich bilden will." Freilernen stehe außerdem für die "natürlichste Art und Weise, Erfahrungen zu sammeln, daraus zu lernen und Wissen zu erschaffen", ist auf der Website zu lesen.

Die Kinder gar nicht zu unterrichten und ganz ihrer "natürlichen Entwicklung" zu überlassen widerspreche eigentlich der Unterrichtspflicht, heißt es vom Bildungsministerium. Eine Überprüfung des Bildungserfolgs gibt es einmal pro Jahr per Externistenprüfung in einer regulären Schule. Das werde auch in Zukunft so bleiben, teilt das Ministerium dem STANDARD mit. Die Kontrolle durch die Prüfungen reiche jedoch nicht aus, meint der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann: "Wir wissen, dass Prüfungen oft an Schulen stattfinden, deren Leiter mit der Idee sympathisieren."

Einmal pro Jahr müssen Freilerner und Homeschooler zur Prüfung antreten. Dort soll abgefragt werden, ob der Stoff für das jeweilige Jahr vermittelt wurde.
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Soziale Erfahrungen außerhalb der "Bubble"

Außerdem sei nur möglich zu überprüfen, ob die Kinder den Stoff aus den Hauptfächern grob kennen. Das Herstellen von Querverbindungen, das zum Verstehen der Welt führe, könne aber meist nur durch professionelle Vermittlung beigebracht werden. Viel schlimmer aber sei, so Hopmann, der Verlust der Kultivierung – die Erfahrung des Lernens mit anderen. Die Kritik gelte auch, wenn dies in privaten Lerngruppen organisiert werde. Man brate in der Schule nicht nur im eigenen Sud – und habe auch mit Kindern Kontakt, die nicht von den Eltern ausgesucht werden.

Eine kleine Gruppe ist seit einigen Jahren aber ohnehin dazu übergegangen, diese Prüfungen gänzlich zu verweigern. Damit begehen sie eine Verwaltungsübertretung, für die seit 1. September laut Wiener Stadtschulrat eine Strafe in der Höhe von 110 bis 440 Euro festgelegt wurde. Außerdem werde als Konsequenz im darauffolgenden Schuljahr der häusliche Unterricht nicht genehmigt. Von dem lassen sich aber nicht alle beeindrucken.

Russische Esoterik auf dem Vormarsch

"Viele Eltern haben ganz spezielle Ideen davon, wie das eigene Kind unterrichtet werden soll", sagt die Psychologin Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen. "Unter ihnen sind viele Helikopter-Eltern, die ihre Kinder zu ihren Hauptbezugspersonen machen – quasi zu ihrer emotionalen Tankstelle." Teile der Szene rund um häuslichen Unterricht sind in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Beratungsstelle gerückt, denn immer mehr streifen an der rechten Esoterik- und Aussteigerszene an. Oft gibt es auch direkte personelle Überschneidungen. "Das ist zum Teil hochideologisch aufgeladen", sagt Schiesser, die sich seit mehreren Jahren mit der Szene auseinandersetzt.

Im Jahresbericht der Bundesstelle für Sektenfragen wird festgehalten, dass eine "Konjunktur von Esoterik auf eine stetig anwachsende Kritik am Schulsystem" trifft. Vor allem esoterische Angebote aus Russland spielen eine Rolle, die teilweise an bestehende Angebote anknüpfen. Viele dieser Bewegungen sind inspiriert von der sogenannten "Anastasia"-Lehre, einer kruden Mischung aus Fantasiegeschichten und Verschwörungstheorien, entnommen einer Buchreihe des russischen Autors Wladimir Megre.

Das dort propagierte Weltbild teilt diese in eine negative, moderne Welt der Technik und des Fortschritts auf der einen Seite und das Leben im Einklang mit der Natur auf der anderen Seite. Es wird dazu aufgerufen, "Landsitze" zu errichten, auf denen eine Familie autark leben soll. Auch antisemitische Äußerungen sind zu finden, wie etwa jene, dass Juden wohlhabend seien und Einfluss auf die Regierung nehmen könnten.

Bezug genommen wird in den Büchern auf die russische "Schetinin"-Schule am Schwarzen Meer, bei der die Schüler in einem Internat leben, einem strengen Tagesablauf inklusive landwirtschaftlicher Arbeit unterworfen sind sowie nach einem fragwürdigen pädagogischen Konzept unterrichtet werden, nach dem es möglich sein soll, innerhalb kürzester Zeit Maturaniveau zu erreichen.

Dahinter steht die Theorie, dass alles Wissen in den Kindern bereits angelegt sei und nur noch seinen Weg zur Entfaltung finden müsse. Im Zuge einer "Wissensosmose" und durch die Verwendung von "Schaubildern" sollen Kinder ihr Wissen an andere Kinder innerhalb kürzester Zeit weitergeben. Überdies wird Kampfsport gelehrt. Psychologin Schiesser beschreibt die Schetinin-Bewegung als "militaristisch-nationalistisch".

Trendet immer mehr: Lernen abseits der Schule – möglichst in der Natur.
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Anknüpfungspunkte für rechte Strömungen

Auch die boomenden "Lais"-Schulen behaupteten anfangs, auf diese Theorien Bezug zu nehmen, auch wenn sie sich mittlerweile offiziell davon distanzieren – der STANDARD berichtete. Genau genommen handelt sich hierbei meist um private Lerngruppen und keine Schulen – auch wenn diese sich so bezeichnen. Das ist auch erlaubt, sagt das Bildungsministerium: "Schule" ist in Österreich kein geschützter Begriff. Aber nicht nur dort finden diese Theorien Widerhall. Überschneidungen gibt es außerdem zur Staatsverweigerer-Szene – einer Bewegung, die den Staat als Ganzes nicht nur ablehnt, sondern in der Republik eine Firma zu erkennen glaubt. Auch Rechtsextreme tummeln sich – ähnlich wie unter den deutschen "Reichsbürgern" – dort.

Auch diese Menschen drängen in die Freilernerszene, wobei die meisten Freilerner-Familien ihre Kinder in keine Schule – auch in keine private – schicken. Aber mit Teilen dürfte ein Austausch herrschen. Denn viele Freilerner praktizieren ein "extremes Aussteigerleben", sagt Schiesser. Sowohl der Bundesstelle als auch dem STANDARD ist ein Fall bekannt, bei dem die Eltern ihr neu geborenes Kind nicht anmelden wollten.

Nicht alle Eltern kommen mit gefestigten ideologischen Motiven zu dem Entschluss, ihre Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken, und viele haben in der Tat nichts mit russischer Esoterik am Hut. Nicht alle seien von einer radikalen Auslegung angetan, sagt Schiesser. Die meisten hätten "ehrbare Motive", sagt auch Bildungswissenschafter Hopmann. Diese werden aber immer häufiger von einschlägigen Bewegungen aufgegriffen.

Vor zwei Jahren referierte der Aussteiger Joe Kreissl bei einem Treffen aus dem Freilerner-Umfeld. Kreissl gilt als Szenegröße unter den "Freemen", einer Variante der Staatsverweigerer, und verabschiedete sich vor einigen Jahren per "Einschreiben" von der Republik Österreich. Ein ähnliches Schreiben findet man online von einem Mitglied des Leitungsteams des "Netzwerks der Freilerner".

Fehlende Debatte

Mit Aussagen zum Holocaust fiel Kreissl folgendermaßen auf: "Ich war nicht dabei. Ich kann den Holocaust nicht leugnen, ich kann auch nix bestätigen." Ebenfalls geladen war Monika Donner, Angestellte im Verteidigungsministerium, die sowohl bei den Terroranschlägen in Paris 2015 als auch bei denen vom 11. September in den USA von "False-Flag-Operationen" spricht. Diesen Sommer referierte die Leiterin der "Wings-Schulinitiative" im Waldviertel bei einem Freilerner-Treffen, das auch vom "Netzwerk der Freilerner" beworben wurde. Auf der Wings-Website ist offen der Bezug zur "Schetinin"-Schule angeführt. Auch die russische "Kampfkunst Systema" wird dort gelehrt. Überdies traten mehrere Freilerner-Vertreter beim rechtsesoterischen Sender Okitalk auf.

Eine breite, kritische Auseinandersetzung innerhalb der Szene dürfte es nicht geben. Auf Anfrage des STANDARD an das Freilerner-Netzwerk heißt es lediglich, man solle sich bezüglich der esoterischen Bewegungen an Vertreter wenden, die darüber "besser informieren" könnten. Von jedweden staatsfeindlichen Aktivitäten distanziere man sich: "Wir anerkennen den Staat Österreich und seine Gesetze. Deshalb haben wir ja eine in Österreich anerkannte Rechtsform, die des Vereins, gewählt."

Die anerkannten Schulen, an denen die Externistenprüfungen abgelegt werden, dürfen sich die Familien selbst aussuchen. Hier strengere Regeln einzuziehen ist seitens der Politik nicht geplant. Eine Kleinigkeit hat sich seit 1. September aber geändert: Es gibt keine Beschränkung des Zeitraums mehr, innerhalb dessen der häusliche Unterricht untersagt werden kann. Bisher hatten die Behörden einen Monat dafür Zeit. Ob eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, wird laut Bildungsministerium "von Fall zu Fall" geklärt. Ein allgemeingültiges Verfahren gebe es nicht. (Vanessa Gaigg, 3.9.2018)