Nicht "kurz vor gut" hängen bleiben: Helene Hegemann lebt nahe der Rehwiese in Berlin.

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Helene Hegemann, "Bungalow" € 23,70 / 288 Seiten. Hanser-Verlag, München 2018

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Helene Hegemann sitzt auf einer Bank im Park und macht sich Gedanken über Sätze. Das ist einerseits nicht weiter ungewöhnlich, denn sie ist Schriftstellerin, und ihre Bücher bestehen nun einmal aus Sätzen. Allerdings kriegt man gleich einmal eine Idee davon, dass Schreiben ganz schön kompliziert sein kann, wenn man hört, welche Ansprüche Hegemann an Sätze stellt. Sie sollen vor allem nicht durchschaubar sein. Sie will Überraschungen, fürchtet sich vor Pseudoüberraschungen, sie will gute Sätze. Was sie gar nicht mag, ist etwas "kurz vor gut. Richtig schlecht ist auch wieder okay."

Am besten, man macht die Probe mit einem konkreten Exempel: ein Satz aus ihrem neuen Buch Bungalow. Die Erzählerin, ein Mädchen namens Charlie, stellt sich vor: "Falls jemand interessiert, wie ich zu diesem Zeitpunkt ausgesehen habe, mittelmäßig, dünn genug, dass mir fremde Männer auf der Straße zuzwinkerten, Hautunreinheiten beschränkten sich auf die Stelle neben meinem rechten Mundwinkel, um den sich, wenn ich meine Tage kriegte, in einem Rechteck von zwei Quadratzen timetern Eiterpickel ausbreiteten, kein Arsch, keine Titten, Jungskörper, was mir gefiel." Der Satz wurde für besser als kurz vor gut befunden, und man versteht auch, warum. Er steht perfekt für den Sound, den Hegemann in ihrem dritten Buch findet. Sie erzählt von Charlotte, die in einer Sozialsiedlung wohnt, unter nicht eben idealen Umständen, mit einer Mutter, die häufig "in der eigenen Kotze liegt und heult".

Eines Tages ziehen neue Nachbarn ein, und zwar nicht auf der Etage, sondern in einen Bungalow, wo Menschen leben, denen es besser geht. Georg und Maria. Charlie verliebt sich, und zwar nicht irgendwie kurz vor heftig. "Ich musste die beiden besitzen, verachten und wegschmeißen. Ich war dreizehn Jahre alt. Ich fiel fast in Ohnmacht."

Stapfen über Stoppeln

Die Bank, auf der wir über Bungalow sprechen, steht im Südwesten von Berlin am Rande eines Parks, bei dem man besser nicht an gestutztes Grün und feinen Sand auf ebenen Wegen denken sollte. Die Rehwiese ist eine von Villen umbaute Senke mit eher grobem Bewuchs, irgendwer muss da neulich mit dem Mähdrescher durchgegangen sein, denn an dem frühen Morgen zu Wochenbeginn, den Hegemann für das Treffen vorgeschlagen hat, stapfen wir über Stoppeln. Es ist ihre Hunderunde, heute sind die Hunde nicht dabei. Sie wohnt nicht weit von hier in einem Haus am Wald, wenn sie in die Innenstadt will, nimmt sie die S-Bahn in Nikolassee. "Alles ein bisschen unheimlich hier, es gibt ein paar Häuser, wo man wirklich einen Gruselfilm im England der 10er-Jahre ansiedeln könnte. Man sieht hier selten Leute, was mich immer wieder irritiert."

Tatsächlich passt die Örtlichkeit sehr gut zu einem Gefühl, das man bei der Lektüre von Bungalow bekommt. Apokalyptisch wäre übertrieben, aber es gibt immer wieder Anzeichen dafür, dass am Ende der Kindheit von Charlie etwas mit der Welt nicht ganz ideal läuft. Wenn man von Helene Hegemann selbst – sie ist jetzt 26 – auf Charlie zurückrechnen wollte, dann wäre man irgendwo Mitte der Nullerjahre, in einer Welt, die aber noch durchsetzt ist mit Versatzstücken aus tieferen Kindheitsschichten. Das ist in diesem Fall eher nicht individuell zu verstehen, sondern man könnte an eine Sedimentierung von Medienerfahrungen denken.

Die schrecklichen Kinder

Youtube gibt es seit 2002, davor war Fernsehen, auch das ist in Bungalow präsent. Hegemann spricht von "Krieg im Kinderzimmer". "Beballertwerden ist eine Erfahrung. Am extremsten finde ich all das, was ich erst mit Anfang 20 mitgekriegt habe. Videos von Hinrichtungen, so was gab es nicht in meiner Kindheit, dass jemand geköpft wird oder erschossen, und man kann vor- oder zurückspulen." In Bungalow hat sich etwas imprägniert, was einen zwar nicht dazu verleiten sollte, allzu direkt von Helene auf Charlie zu kommen, was aber zweifellos etwas mit der Geschichte einer Autorin zu tun hat, die sehr früh im Kultur- und Medienbetrieb ankam und die man ein wenig zugespitzt als Kind der Medienbeschleunigung sehen könnte, die das Internet mit sich gebracht hat: Mit 15 das erste Theaterstück, mit 17 der erste Film, mit 18 dann das erste Buch, das nicht nur Aufsehen, sondern auch ein bisschen Skandal machte.

Axolotl Roadkill enthielt Passagen von dem Blogger Airen, und eine Weile stritt die kleine literarische Öffentlichkeit darüber, ob Hegemann abgeschrieben oder montiert hatte. Inzwischen hat sie das Buch unter dem leicht abgewandelten Titel Axolotl Overkill selbst verfilmt. Vor unserem Treffen war sie zwei Wochen in einer österreichischen Berghütte, um eine Erzählung von Jean Cocteau für das Theater zu adaptieren: Die schrecklichen Kinder.

Gefährliche Frühreife

Mit diesem Stichwort ist man auch wieder bei Charlie und bei Hegemanns Generalthema. Denn wenn ein Buch damit beginnt, dass eine sehr junge Frau, über eine Waschmaschine gebeugt, sich von einem deutlich älteren Mann nehmen lässt (sie stößt ihn dann weg und würgt ihn ein bisschen), dann setzt sie auch selbst das erzählerische Spiel mit einer gefährlichen Frühreife fort, das ihre Karriere bisher geprägt hat. Dabei wollte sie ursprünglich etwas anderes mit Bungalow.

"Ich habe mit den Erwachsenen begonnen. Ich mochte diese Art von gebrochener Bürgerlichkeit. Georg und Maria sind Gewinner, tragen 800-Euro-Jeans, obwohl sie permanent das System unterwandern. Es gibt da so einen Kontrast, eine Unverhältnismäßigkeit der Probleme. Dass sie das Leben in Südamerika spannender finden und verkatert sind, wechselt sich ab mit unkonkreter Panik vorm Weltuntergang. Das ganz Kleine und das ganz Große nebeneinander – das interessiert mich, und die Diffusität, die da entsteht."

Einen nachbürgerlichen Roman in ramponierter, dritter Person konnte Hegemann dann doch nicht schreiben. Da hätten die Sätze nicht gestimmt. "Charlie kam hinzu, weil sich beim Schreiben über Maria und Georg ein Gefühl von Heuchelei breitmachte. Wahrscheinlich, weil ich es als Anmaßung empfand, aus vermeintlich objektiver Perspektive von Leuten zu berichten, die 15 Jahre älter sind. Vor allem hielt ich plötzlich die auktoriale Erzählweise für nicht zeitgemäß. Ich musste diese beiden Leute in ein Verhältnis zu wem setzen, das ist die Grundlage jeder Geschichte, ein Verhältnis zwischen Faktoren, die man nicht zusammen denken kann."

Dunkler Bildschirm

Für das Finden der richtigen Sätze braucht es einen gewissen Flow, für den Hegemann manchmal zu einem Trick greift. Sie stellt den Bildschirm dunkel. "Man sieht dann nicht, man schreibt einfach, und kann am Ende bearbeiten, was sich da angesammelt hat. Damit man sich nicht die stundenlang selbst überprüft und mit einem falsch formulierten Halbsatz aufhält. Um sich von sich selbst zu befreien."

Literatur als Weg zu sich selbst und von sich selbst weg. In diesem Wechselspiel wachsen Autoren. Wichtig ist dabei, "sich regelmäßig Situationen auszusetzen, die nicht komfortabel, sondern schmerzhaft sind. Wo einem die Existenzgrundlage entrissen wird und man von einem neuen Umfeld als etwas anderes betrachtet wird als da, wo man herkommt, wo man auch seine Sprache los ist, weil niemand Englisch kann. Das hilft beim Empathischsein." Ein russisches Dorf zum Beispiel, das könnte so eine Erfahrung sein, fügt sie noch hinzu, und es klingt wie eine Idee für eine Reise oder vielleicht auch für ein Buch. Die Rehwiese ist jetzt kein russisches Dorf, aber für die Verhältnisse von Berlin ist das kein alltäglicher Ort, und wenn man sich überlegt, welche Sprache die unsichtbaren Menschen in den Villen sprechen, dann ist man gleich bei einem Spezialfall der Empathie: beim Fantastischen – und damit auch wieder bei Sätzen, mit denen Helene Hegemann etwas anfangen kann, damit sie nicht bei "kurz vor gut" hängen bleiben. (Bert Rebhandl, Album, 1.9.2018)