Es ist eine Szene wie aus einem Krimi. Ein kleiner, mit sterilem Alu verkleideter Raum, eine weiße Toilette. Direkt daneben ziehen sich rote Rinnsale die Wand hinunter, die blutverschmierte Sitzschale wurde notdürftig mit einem Pullover gereinigt, der zusammengeknautscht danebenliegt. Eine Flasche Putzmittel steht auf dem Boden. Auch die Kloschüssel war voller Blut, man sieht es noch deutlich, das Abflusswasser ist rötlich gefärbt. Doch es wurde gespült, mehrmals. Ein Häftling, das Opfer, hatte noch versucht, den Schauplatz seiner eigenen Misshandlung zu reinigen. Aus Angst vor dem Täter – einem Mitinsassen.

Jeder Zweite erlebt Gewalt

Fotos wie jenes, das diesen Tatort abbildet, werden wöchentlich mehrfach an das Justizministerium übermittelt. Aus Haftanstalten in ganz Österreich. Im Jahr 2017 wurden 540 Fälle direkter körperlicher Gewalt unter Häftlingen verzeichnet – ein Anstieg um mehr als 80 Prozent innerhalb von zwei Jahren, seitdem die Zahlen zentral erfasst werden.

Foto: Der Standard

"Wir wissen, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist", sagt Michael Binder, stellvertretender Leiter der Abteilung Sicherheit im Justizministerium. "Ich gehe davon aus, dass mindestens jeder zweite Gefängnisinsasse in Österreich während seiner Haft mit roher Gewalt konfrontiert ist." Die Daten für das Jahr 2018 wurden noch nicht vollständig ausgewertet, aber schon jetzt zeichne sich ab: "Die Zahl der Opfer wird weiter steigen."

Im Gefängnis gibt es eine Art Ehrenkodex, erzählt ein langjähriger Justizbeamter: Keiner petzt. Egal, was passiert ist.
Foto: elmar gubisch

Drei, vier Delikte im Jahr sorgen meist medial für Aufsehen. Etwa als 2017 ein Häftling in Graz auf einen anderen mit einem Tischbein eindrosch, bis dessen rechte Schädelhälfte zertrümmert war. Er starb. Kurz zuvor war ein 24-Jähriger in der Justizanstalt Hirtenberg von seinem Zellengenossen gefoltert worden. Die tiefen Schnitte auf seinem Rücken bildeten ein Wort: "Hure". Er verband seine Wunde mit Klopapier, versuchte, sie irgendwie zu verbergen. Doch diese Fälle sind bloß die Spitze des Eisberges.

Fotos und Berichte aus Haftanstalten, die dem STANDARD vorliegen, zeigen: Gewalt unter Häftlingen ist in heimischen Justizanstalten der bittere Alltag. Die Opfer sind häufig auch Kleinkriminelle, die nur kurz in Haft sind – wie der gefolterte 24-Jährige, der wegen Einbruchs einsaß. Die Täter werden oft nie bestraft, weil die Geschädigten nicht reden wollen. Beamte bekommen dann Ausflüchte zu hören: gestürzt, beim Rasieren geschnitten, gestolpert.

Für das Phänomen des kollektiven Schweigens in der Haft gibt es mehrere Erklärungen. Erstens besteht im Gefängnis eine Art Ehrenkodex, erzählt Binder, der selbst viele Jahre in Justizanstalten gearbeitet hat: Keiner petzt. Egal, was passiert ist. Häftlinge haben deshalb massive Angst vor Rache, wenn sie Gewalt anzeigen. Zweitens sind die Opfer manchmal selbst in illegale Geschäfte involviert gewesen und werden etwa verprügelt, weil sie die Schulden für ein eingeschmuggeltes Suchtmittel nicht begleichen – die Hemmschwelle ist groß, etwas zu melden, für das man auch selbst bestraft werden könnte. Ein weiterer Grund ist mangelndes Vertrauen in die Institution, den Staat, den Sicherheitsapparat, sagt Binder. Er führt das auch auf eine "Veränderung der Insassenpopulation" zurück.

Gewaltaffin und kulturell obdachlos

Ziemlich konstant sind in den vergangenen Jahren rund 9000 Menschen in Österreich inhaftiert. Aktuell sind 55 Prozent der Gefängnisinsassen keine österreichischen Staatsbürger. Das ist aus zweierlei Gründen sicherheitsrelevant: "Wir haben es mit vielen jungen Männern aus Kriegsgebieten zu tun, die völlig anders sozialisiert, hochgradig gewaltaffin und kulturell obdachlos sind", sagt Binder. Seit einigen Jahren würden dadurch kriminelle Strukturen und Hierarchien in den heimischen Strafvollzug importiert, die es zuvor nicht gab. Und hinzu komme eben: "Wenn jemand aus einer Region kommt, in der Uniformierte korrupt sind und ihn bedroht haben, wendet er sich auch hier nicht an einen Beamten, wenn er Hilfe braucht."

Das alles führt dazu, dass in Gefängnissen auch Substrukturen regieren. Häftlinge aus demselben Sprach- und Kulturkreis schließen sich zusammen. Schutz bietet die Gruppe, nicht der Wachkörper. In der Justizanstalt Josefstadt, dem mit Abstand größten Gefängnis Österreichs, sind aktuell Häftlinge aus 77 verschiedenen Nationen untergebracht. Das Wachpersonal spricht in der Regel Deutsch und Englisch.

Fortsetzung des Körperstrafrechts

Die Frage ist: Was kann der Staat dagegen tun? Binder sieht wenig Möglichkeiten. "Früher kam es auch zu Aggressionen aufgrund schlechter Haftbedingungen, aber abgesehen von der Überbelegung kann man davon heute nicht mehr sprechen." Es gebe Seelsorge, Beschäftigung, die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, Fernseher, medizinische Versorgung. "Wir haben Häftlinge, bei denen hilft keine Sozialarbeit, keine psychologische Intervention, einfach gar keine Maßnahme", sagt Binder. "Es gibt immer mehr Insassen, die brandgefährlich sind, und wir können langfristig praktisch nichts dagegen tun."

Die kurzfristige Lösung ist für Binder, mehr Justizwachepersonal für Sicherheitsaufgaben abzustellen. "Es liegt im Wesen des Exekutivbeamten, Gewalt anzuziehen und abzufangen, dafür wurde er ausgebildet, dafür ist er ausgerüstet und bewaffnet", sagt er. Häftlinge seien hingegen im Gefängnis, um ihre Strafe abzusitzen. Sie dort Gewalt auszusetzen sei schlussendlich "eine Fortsetzung des Körperstrafrechts" – was ein Rechtsstaat nicht zulassen dürfe. (Katharina Mittelstaedt, 3.9.2018)