Ein Strippenzieher arbeitet naturgemäß im Verborgenen. Wird er entlarvt, wirkt er wie ein müder Puppenspieler – seine Strippen, Fäden, Tentakel liegen nun offen und erschlafft zutage, er wird zum Gegenstand von Schaulust und Spott. Zugleich bietet solch spektakuläres Scheitern die Gelegenheit, einiges über Größe und Beschaffenheit von sozialen Netzwerken in Erfahrungen zu bringen. Denn diese funktionieren ja nur, solange sie gerade nicht transparent sind.

Eine Sensationsgeschichte des Jahres 1765

Eine solche Mischung aus Neugierde und Häme bietet die Geschichte der Ermordung des Georgios Stavrakis, einer der einflussreichsten Akteure im Konstantinopel des 18. Jahrhunderts, der 1765 auf Geheiß des Sultans erhängt wurde. Über diesen Fall berichtet eine anderthalb Jahre später in Venedig gedruckte neugriechische Verschronik. In süffiger, zuweilen reißerischer Volkssprache erzählt das Büchlein vom Aufstieg und Fall eines der berüchtigtsten Männer der Reichshauptstadt, dessen Einfluss weit über die Stadt selbst auf den Heiligen Berg Athos, auf die Ägäis und bis in die vom Osmanischen Reich abhängigen Donaufürstentümer (Teile des heutigen Rumänien) reichte. Stavrakis’ gewaltsamer Tod und die Vernichtung seines Vermögens, die vom anonymen Versdichter mit voyeuristischer Lust ausgebreitet werden, geben Anlass, dem verblüfften Leser seinen Werdegang vorzuführen.

Konstantinopel war im 18. Jahrhundert Schauplatz einer Sensationsgeschichte.
Foto: APA/AFP/BULENT KILIC

So erfahren wir von dem Sohn eines griechischen Arztes, der den vorgebahnten Wegen seines Vaters folgte und gute Beziehungen in den Sultanspalast pflegte. Gegen politische Gegner ging er skrupellos vor und spielte sich so in die Gunst von Anwärtern auf die lukrativen Fürstenämter der Moldau und der Walachei. Da Stavrakis der Hohen Pforte als verlässlicher Untertan und Partner galt, konnte er schon bald selbst über Besetzung und Absetzung der Fürsten sowie über deren jeweilige Steuerpolitik verfügen. Daneben machte er seinen Einfluss auch in vielen anderen Bereichen geltend.

So beeinflusste er – mit wechselndem Erfolg – die Besetzung des Ökumenischen Patriarchats, des wichtigsten Amts der östlichen Christenheit, und er kontrollierte, vom Sultan zum Oberhaupt der Fleischhauerzunft ernannt, die Fleischversorgung Istanbuls, immerhin eine der größten Städte des 18. Jahrhunderts. Ferner hatte er das Monopol über den damals schon lukrativen Tabakhandel der Stadt inne, und schließlich fand er auch Rückhalt in militärischen Kreisen, denn Stavrakis war – für einen Christen zwar selten, aber nicht unmöglich – Mitglied des Elitekorps der Janitscharen, eines bis in 19. Jahrhundert gewichtigen Machtfaktors im politischen Spiel des krisengeschüttelten Reichs.

Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Stavraki
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Genialer Makler

Stavrakis erwies sich als genialer Makler zwischen all diesen Sphären. Seine Beziehungen beruhten darauf, dass er Kredite vergab und so eine Situation der Verschuldung schuf. Dieser Schlüsselmechanismus konnte eine Vielzahl von Formen annehmen: von großzügigen Spenden für kulturelle wie karitative Zwecke über umfangreiche Geldverleihungen für die Anwärter auf den Thron der Walachei und Moldawien bis hin zu Methoden der regelrechten Erpressung. Auf diese Weise gelang es ihm, ein weit verzweigtes Schuldner-Netzwerk um sich herum aufzubauen: "ein Hund, der von allen wie ein König verehrt wurde", wie es heißt.

Folgen wir dem Gang der Erzählung, wurde Stavrakis’ Fall durch jemanden eingeleitet, dessen Glaubwürdigkeit vom Sultan noch höher geachtet wurde als seine eigene, nämlich durch den Chan der Krimtataren, einem engem Untertan und Verbündeten der Osmanen. Dieser gab zu bedenken, dass die Machenschaften des Griechen eine Stimmung der Feindseligkeit bei Christen und Moslems zugleich erzeugt hätten, die sich letztlich staatsgefährdend auswirken könnten. Stavrakis, derartige Bezichtigungen durchaus gewohnt, versuchte in bewährter Weise, seine Beziehungen zum Spielen zu bringen oder, in der Sprache der Quelle, "alle durch seine dicken Geldbeutel einzuschüchtern". All diese Versuche erwiesen sich indes als wirkungslos und letztlich hilflos, was der Erzähler mit spürbarer Lust vorführt: die ausländischen Konsulate, auf deren Hilfe er selbstsicher setzte, standen ihm nicht mehr bei; der Patriarch, dessen Autorität er mehrfach angegriffen hatte, wollte sich ebenso wenig für ihn verwenden; und selbst der Gardist, der ihn abführte, ließ sich nicht mehr bestechen.

Offensichtlich hatte Stavrakis das von ihm geschaffenen Geflecht von Beziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten überstrapaziert. Bis zu seinem Ende wähnte er sich in der trügerischen Gewissheit, die Fäden noch selbst in der Hand zu halten, obwohl diese ihre Zugkraft längst eingebüßt hatten.

Korruption im Fokus der Aufmerksamkeit

Ob faktisch belastbar oder doch eher fiktional aufgebauscht – am "Fall" des Stavrakis lässt sich erkennen, wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts Erpressung, Bestechung und Unterschlagung zum Gegenstand öffentlicher Skandalisierung werden. Entgegen dem verbreiteten Klischee des korrupten Orientalen, das bezeichnenderweise gerade in dieser Epoche aufkam, zeigt gerade die weite Verbreitung der Geschichte, dass von einer stillschweigenden Akzeptanz korrupter Praktiken nicht die Rede sein konnte.

Seit ihrem Erscheinen weit über 20 Mal neu aufgelegt, schreibt sich die Geschichte von Stavrakis in eine europaweit zu verfolgende Verschiebung der Bewertungsmaßstäbe ein, die korruptes Verhalten neu vermaß, ja überhaupt erst nach dem heute geläufigen Verständnis bestimmte: nicht allein als individuelles sündhaftes Verschulden, sondern als politisches Problem. Ob dieser Wahrnehmungswandel freilich eine Veränderung der Praxis selbst reflektiert oder in Gang setzte, bleibt freilich noch zu bestimmen. Doch macht die Sensationsgeschichte des "größenwahnsinnigen Griechen" immerhin deutlich, dass die verborgenen Seiten des Fädenspinnens auch im europäischen Südosten zunehmend ins Licht der Aufmerksamkeit und Kritik gerieten. (Konrad Petrovszky, 12.9.2018)

Der Fall des Stavrakis bietet einen eigentümlichen Blick auf das überaus spannungsreiche 18. Jahrhundert, ein derzeitiger Schwerpunkt der Balkanforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Weitere Szenen dieser für den europäischen Südosten erstaunlich wenig erforschten Übergangszeit werden in einer Serie von hier erscheinenden Blogbeiträgen vorgestellt.