Drama auf hoher See: Ein Nazi (Raphael von Bargen, li.) setzt den honorigen Kapitän (Herbert Föttinger) unter Druck.

Schlager/APA

Die böseste Figur in Daniel Kehlmanns szenischer Odyssee "Die Reise der Verlorenen" ist ausgerechnet ihre wahrhaftigste. Mit dem Elan des künftigen Judenvernichters eilt Otto Schiendick (Raphael von Bargen) an die Rampe des Wiener Josefstadt-Theaters.

Der Mann ist unverbesserlicher Nazi. Als solcher dient er als kleiner Offizier auf dem Luxusliner "MS St. Louis". Man schreibt das siebente Jahr der Nazi-Herrschaft; das Schiff soll 1939 knapp tausend Juden aus allen Alters- und Elendsklassen von Deutschland nach Kuba verschiffen.

Die Hamburger Reederei hat mit reichsdeutscher Gründlichkeit aus der Notlage der Bedrängten einen Erwerbszweig gemacht. Mit echt arischem Geschäftssinn erpresst man von den Flüchtlingen das Geld für Rückfahrttickets. Die benötigt man höchstens, um endgültig heim ins Verderben zu schippern. Die historisch verbürgte Reise ins Ungewisse – was darf sich die Gesellschaft von den Kubanern erhoffen? – erweist sich bald als Irrfahrt.

Nazi aus Papier

Das Papierschiffchen, mit dem zwei Mädchen soeben gespielt haben, wischt Schiendick, der Parteibuch-Streber, mit dem Schuh beiseite. Die Zeit für Ausflüchte ist vorbei. Kehlmanns Papier-Nazi richtet von nun an seine Kommentare und Anmerkungen direkt ans Publikum. Dass er, obwohl auf hoher See, als "Ortsgruppenleiter" amtiere; dass er "buchstäblich" ein Nazi sei, obendrein ein "Wicht", ein Denunziant. Unverschämter hat nur Shakespeares hinkender Richard um Sympathie für eklatante Charaktermängel geworben.

Der treuherzig nüchterne Appell ans Publikum bezeichnet leider auch das zentrale Manko dieses vor Rechtschaffenheit strotzenden Abends. Als Theaterstück ist Kehlmanns Auftragswerk nicht über den Weg zu trauen. Oft und gerne unterbrechen die Figuren ihre Suada, um die Zuhörer im Parkett über ihre wahren Absichten in Kenntnis zu setzen. Kehlmann, könnte man sagen, gibt den Bertolt Brecht der Ära Strache/Kurz: komplett mit Verfremdung und lehrhaftem Aspekt, moralisch empört, aber mit sachlichem Nachdruck.

Vertreter des Anstands

Janusz Kicas Inszenierung ähnelt einer szenischen Kantate (wie Brechts "Maßnahme"). Wenn die 32 Schauspieler mitsamt der Komparserie im schwarzen Schiffsbauch Aufstellung genommen haben (Bühne: Walter Vogelweider), wartet man unwillkürlich auf die Intonation eines Vertriebenenchors. Die jüdischen Seefahrer wider Willen dürfen stattdessen jeweils aus dem Nähkästchen plaudern: Skizzen statt Figuren. Über ihnen allen wacht, mit der eisernen Miene des wahrhaft Gerechten, Kapitän Gustav Schröder (Herbert Föttinger), ein Vertreter des Anstands wie aus dem Nibelungenstoff.

Es sind die Mühlen der Ungerechtigkeit, von deren Mahlen "Die Reise der Verlorenen" erzählt. Bald schon stehen die schmierigen Regierungsvertreter Kubas aufgefädelt, um für die in Aussicht gestellte humanitäre Hilfe Unmengen von Schmiermittel zu kassieren. Wojo van Brouwer und Michael Dangl (im vanillefarbenen Diktatorenanzug) gelingen mit wenigen Strichen prächtige Charakterbilder.

Niemand tut, wie er in Wahrheit könnte. Urheber des zynischen Abtransports wie der Hamburger Konsul (Joseph Lorenz) waschen ihre gut parfümierten Hände in Unschuld. Die Passagiere blicken über die unsichtbare Reling auf die Lichter von Havanna, und doch muss die "St. Louise" wenden und umkehren. Episoden wie der Selbstmordversuch des Max Loewe (Marcus Bluhm), der mit blutenden Pulsadern in den Tod tanzt, zerreißen einem das Herz.

Die Unfähigkeit der Kanzlisten

Um den Appell ans Mitgefühl allein kann es nicht gehen, das Theater speist sich aus anderen Nährstoffen als bloß Empörung: über die Zögerlichkeit der Lebensretter, den Antisemitismus der anderen, die Unfähigkeit von Staatskanzlisten in Washington und London. Man kommt nicht umhin, an unsere EU-Politiker zu denken. Die von "Menschenfleisch" sprechen, wenn sie an Migranten denken (Matteo Salvini), und die den Begriff "Seenot" am liebsten aus ihrem Empörungsvokabular streichen würden.

Der ästhetische Biedersinn der Josefstädter Veranstaltung lebt von der Politik des Fingerzeigs. Kaum, dass der Nazi Schiendick sich keifend als der Unmensch erweist, der er ist, schon tragen anonyme Subalterne ein Hitler-Porträt über die Bühne. Auch erklingt viele Male "Es zittern die morschen Knochen"; von Bargen flüstert das widerliche Lied ergriffen, so, als würde er Konfekt naschen.

Kaum kommt eine Szene in Schwung, wird sie durch schnöde Chronistenpflicht erstickt. Für die Flüchtlinge der "St. Louis" geht die Sache einigermaßen glimpflich aus. Man verteilt die menschliche Fracht auf Holland, Belgien, England und Frankreich. Hastig setzen uns die Figuren darüber in Kenntnis, wie ihnen das Schicksal weiterhin mitgespielt hat. Viele entkommen dem Holocaust. Manche von ihnen erzählen mit trockenem Ernst vom eigenen, mehr bis minder gewaltsamen Ende (Roman Schmelzer als Hebräischlehrer, Therese Lohner als schrullige Tante).

Am Wort ist dann wieder der Papier-Nazi, das Scheusal aus dem Geist der Chronistenpflicht, ein Beschöniger und charakterloser Schwätzer. Man ist geneigt, Kehlmanns Stück (und Kicas steife Inszenierung) für seine Einstellung zu loben. Am Ende taugt die hastige Dokumentarrevue als Drama herzlich wenig. Und dass die komplette Besatzung in Schwimmwesten von uns Abschied nimmt, mag als Wink mit dem EU-Außengrenzzaunpfahl hingehen. Künstlerisch ist es eigentümlich matt. (Ronald Pohl, 7.9.2018)