Singuläre Erscheinung: Der 1982 geborene Wiener Schriftsteller Philipp Weiss, dessen Roman "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" gegenwärtig für Furore sorgt.

Foto: Helmut Lackinger

Ein Frischverlassener, der auf der Suche nach der verlorenen Geliebten durch die Straßen Tokios taumelt. Eine junge Frau aus gutbürgerlichem Haus, die im 19. Jahrhundert den Trommeln des Aufruhrs folgt, um in der Pariser Kommune der Diktatur des Proletariats und den Verheißungen der Freiheit zu frönen.

Ein Neunjähriger in einem Küstenort im Norden Japans, der kurz nach der Fukushima-Katastrophe 2011 die Geschichte seiner Angst und Verlorenheit auf ein Diktiergerät spricht. Eine Klimaforscherin im Sodbrennen des Ichs, die, am Ende ihrer Kräfte angelangt, ein Pamphlet mit dem Titel "Zerstört Euch!" zu Papier bringt. Eine Frau schließlich, die sich in Zeiten der Virtualität nach realer Berührung sehnt.

Schwere Herzen

Die Aufzählung von Erzählsträngen, die Philipp Weiss in seinem Romanmonster Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen verknüpft und parallel führt, ließe sich nahezu beliebig weiterführen. Denn gleichsam als Bonusmaterial liefert der 32-jährige Wiener in diesem fünf Einzelbände umfassenden Romankomplex, von dem man nicht behaupten könnte, es mangle ihm an Stoff, einen Überblick der Technik- und Wissenschaftsgeschichte. Sowie den kompakten, zuweilen stark referierenden Abriss der Geschichte unseres Planeten und jener seltsamen, den Planeten zunehmend zerstörenden Kreatur mit dem großen Gehirn und dem manchmal schweren Herzen.

Allerdings ist dieser Roman, der formal avanciert mit verschiedensten Erzählformen spielt, die von einer enzyklopädischen Aufzählung über die klassische lineare Ich-Erzählung bis hin zum Manga-Comic reichen, nicht nur wegen seiner schieren Fülle und der Totalität seines Anspruchs eine singuläre Erscheinung. Dieses reich illustrierte Erzählprojekt ist, gerade in Zeiten des kargen Elektrobuchs, auch ein editorisches Statement.

Fünf Bände im Schuber, aufwendig produziert und nicht ganz billig (49.90 Euro), geschrieben von einem nahezu unbekannten Autor, erschienen im Suhrkamp-Verlag, wobei sich das nicht minder renommierte Pariser Verlagshaus Éditions du Seuil schon vor Erscheinen des Romans die französischsprachigen Rechte sicherte. Es gibt vieles, was schon im Vorfeld darauf hindeutete, dass es sich – jedenfalls medial – bei Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen um einen der Höhepunkte, wenn nicht das Ereignis des heurigen Bücherherbstes handeln könnte. Philipp Weiss selbst, der sechs Jahre zurückgezogen bis zur Erschöpfung an seinem heute, Samstag, erscheinenden Roman arbeitete, gibt sich im Gespräch in einem Wiener Kaffeehaus unaufgeregt. Und er macht nicht den Eindruck, es darauf anzulegen, im Literaturbetrieb Everybody’s Darling zu werden.

Texte essen

Bekannt ist der 1982 geborene Wiener, der als Jugendlicher vor allem Musik machte und Jazz hörte, Insidern durch zwei Bücher im Passagen-Verlag und in der Edition Atelier sowie das eine oder andere Theaterstück. Auch beim Bachmannpreis hat er einst gelesen, dort trat er im Jahr 2009 mit einen Text über einen Autor an, der seinen eigenen Text isst. Auch Weiss verspeiste damals vor laufender Kamera das eben gelesene Manuskript.

Das Feuilleton fand’s nicht lustig und wollte auf diese performative Volte nicht näher eingehen. Wobei Weiss, wie er einmal in einem Interview sagte, in Klagenfurt ohnehin das Gefühl beschlich, es gehe beim Bachmannpreis nicht um Literatur, sondern vor allem um Selbstdarstellung, Einflussnahme und Marketing. So flüchtete er in den Theaterbetrieb und wäre der Literatur fast verlorengegangen. Im Theater – auch nicht unbedingt ein Hort der Uneitelkeit – war es dann mindestens ebenso schlimm. Er beschloss, sich wieder der Literatur zuzuwenden. Auch ohne Verlag. Suhrkamp war dann ein unerwarteter Glücksfall. Als Lieblingsautoren führt Weiss übrigens neben dem Erinnerungsspezialisten Marcel Proust Beckett, Borges und Houellebecq an. Zur Literatur indes kam der Autor, der während des Auslandszivildienstes "schrecklich pathetische" Gedichte zu schreiben begann, eher spät.

Kleines Gift

Als großen Leser sieht er sich trotz eines Literaturstudiums, das er mit einer Arbeit über Peter Handkes Wunschloses Unglück abschloss, auch heute noch nicht. Wobei ihm Handke immer noch nah sei, im Gegensatz zu den auch sehr geschätzten Friederike Mayröcker, Thomas Bernhard und Gert Jonke, die ihn später wieder "verlassen" hätten. Gelesene Bücher sieht Weiss dabei eher als Dialogpartner und ein "kleines Gift", das zum Schreiben anstachle. Er lese daher Bücher oft parallel und selten zu Ende.

Die Frage, ob ihn diese Rezeptionshaltung im Fall des eigenen Romans nicht störe, beantwortet der Autor mit Nein: "Ich mache dem Leser quasi ein neues Angebot. Nämlich parallel und nicht linear zu lesen." "Ich glaube", so Weiss, "dass der Roman ein breites Angebot bietet, mit dem man auf unterschiedliche Weise umgehen kann. Ich finde es in Ordnung, wenn jemand nur einen Band herausnimmt und liest. Obwohl ich in meinem Schreibgestus eine Bewegung hin zum Totalen habe, erwarte ich das in der Rezeption nicht."

Allerdings: "Je mehr man sich in dem Roman verstrickt, desto mehr wird man belohnt." In der Tat wirft Weiss mit diesem Roman ein Erzählnetz aus, in dem man sich wochenlang verlieren kann, wenn einem danach ist. Auch sind die fünf motivisch und über einige Figuren verknüpften Bücher in beliebiger Reihenfolge lesbar. Es bietet sich aber an, mit dem Paris-Strang um Paulette Blanchard, jene junge Frau in der Pariser Kommune, zu beginnen und dann die "Cahiers" mit dem "Zerstört Euch!"-Pamphlet der Klimaforscherin Chantal, einer Nachfahrin Paulettes, zu lesen und sich dann in "Terrain Vague" mit Jona in Tokio auf die Spuren seiner geliebten Chantal zu heften. Zum Abschluss bleiben dann noch die beiden Teile um den neunjährigen Akio sowie der Manga-Comic, der dem Ganzen eine weitere narrative Ebene beifügt.

Japan ist so etwas wie das geheime Epizentrum dieses Romanes. Alle Teile des Buchs spielen teilweise oder auch ganz in diesem technologisch hochgerüsteten, von Erdbeben bedrohten Land. Das Hereinbrechen des Unerwarteten, des Unvorhersehbaren in Form von Revolutionen, Störfällen wie Fukushima, Umweltkatastrophen – und selbstverständlich der Liebe – ist der rote Faden, der sich durch den Roman zieht.

Stumme Gewalt

Um was also geht es in diesem erstaunlichen Buch? Schwer zu sagen, sonst würde es sich kaum um einen großen Wurf handeln. Ein Versuch: Es geht um Form, nicht um Inhalt, es geht um das Neben- und nicht das Nacheinander. Es geht um Fülle, nicht um Knappheit. Es geht um das Leben und das Überleben. Und es gehe darum, so der Autor, neue narrative Strukturen anzubieten, welche die Welt der Hyperräume und der Globalisierung fassbar machen. Gerade dafür fehle uns zunehmend die Sprache. Doch, so Philipp Weiss weiter: "Stumm ist nur die Gewalt, sagt Hannah Arendt. Und sie sagt, dass wir nur das verändern können, was wir versprachlichen können. Dort sehe ich meine Hauptaufgabe als Autor." (Stefan Gmünder, 8.9.2018)