Grüße nach Mexiko-Stadt, dem Schauplatz seiner Kindheitserinnerungen: Alfonso Cuarón mit dem Löwen für "Roma".

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Festival-Hubs: Nach dem Hickhack um Netflix in Cannes ist der Bann am Lido wohl endgültig gebrochen. Mit Alfonso Cuaróns Roma hat erstmals eine Netflix-Produktion den Hauptpreis eines A-Festivals, den Goldenen Löwen von Venedig, gewonnen. Und dies völlig verdient. Cuarón, für Gravity 2014 schon mit einem Oscar ausgezeichnet, erinnert in dem Schwarzweißfilm an seine Kindheit in Mexiko-Stadt Anfang der 70er-Jahre. Das ist ohne Frage großes Kino. Man muss nur sehen, wie gewandt er die privaten Turbulenzen und das Drama einer indigenen Haushälterin in größere gesellschaftliche Umbrüche einfasst. Nicht wenige der Szenen sind in einem einzigen Take gedreht. Doch Roma ist kein Film, der seine formale Bravour eitel ausstellt, er bleibt locker und fokussiert. Die Szene, in der Cleo (Yalitza Aparicio) ein totes Baby zur Welt bringt, war eine der aufwühlendsten des Festivals.

Der Löwe bedeutet einen enormen Prestigeerfolg für Netflix, das endlich auch im seriösen Fach ernstgenommen werden will. Der Preis wird aber auch die Funktion von Filmfestivals neu kalibrieren. Sie werden Streaming-Plattformen so lange mitberücksichtigen müssen, wie diese Autorenfilme produzieren. Das wird Festivals wohl endgültig in "Hubs" verwandeln, von denen Filme in unterschiedliche Öffentlichkeiten aufbrechen. Kinos werden eine davon sein.

Netflix

Westerncomeback: Die wichtigsten Filme der 75. Mostra hatten historische Sujets. Das ist auch der von Guillermo del Toro geleiteten Jury aufgefallen, die am Samstag äußerst geschmackssichere Entscheidungen verkündet hat. Abgesehen von Roma ist der Grieche Yorgos Lanthimos für seine überragende Herrschaftsgroteske The Favourite mit dem Großen Preis der Jury geehrt worden. Der Franzose Jacques Audiard bekam für seine Western-Revision The Sisters Brothers den Preis des besten Regisseurs, die Coen-Brüder für ihre episodische Anthologie The Ballad of Buster Scruggs jenen für das beste Drehbuch. Erstaunlich an allen drei Filmen ist, wie originell sie mit leer geschöpften Genres umzugehen wissen. Bei The Favourite bekommt man aufgrund der Durchtriebenheit der Frauen am englischen Hof den Eindruck, dass bildlich das Korsett gesprengt wird. Die Western überzeugen darin, wie sie weniger bekannte Nischen ausleuchten. Ein Beispiel dafür ist die famose Entertainment-Parabel der Coen-Brüder, die von einem arm- und beinlosen Wanderschauspieler (Harry Melling) erzählt, der immer weniger Publikum anzieht – und schließlich entsorgt wird.

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Quotengate: Eine einzige Frau war mit der Australierin Jennifer Kent im Wettbewerb vertreten, das hat dem Festival den Vorwurf eingebracht, von derselben "giftigen Männlichkeit" beherrscht zu sein, die Italien auch politisch bestimmt. Wer Böses denkt, wird behaupten, dass The Nightingale schon deshalb ausgezeichnet werden musste.

Tatsächlich erhielt nicht nur Hauptdarsteller Baykali Ganambarr einen Preis, der Film wurde auch mit dem Spezialpreis der Jury geehrt. Das gewaltverliebte Historienstück erzählt eine feministische Heart-of-Darkness-Fabel über eine irischstämmige Frau (Aisling Franciosi) im Australien des 19. Jahrhunderts, die gemeinsam mit einem Aborigine die Verfolgung ihrer Peiniger aufnimmt. Kent demonstriert letztlich nur, dass Sadismus kein Privileg weißer Männer ist. Ärgerlich, dass man als einzigen Film einer Regisseurin im Wettbewerb einen auswählt, der seine Gendernummer mit Großbuchstaben auf der Stirn trägt. Die gute Nachricht: Mit Sudabeh Mortezai wurde eine heimische Filmemacherin prämiert. Für Joy erhielt sie den Hearst Film Award und den Europa-Cinemas-Label-Preis.

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Kunst und Anti-Kunst: Künstlerfilme sind nie ganz aus der Mode, in Venedig waren gleich zwei prominent programmiert. US-Regisseur und Maler Julian Schnabel beschäftigt sich in At Eternity’s Gate mit Vincent van Gogh. Willem Dafoe verkörpert ihn als getriebenen Einzelgänger, wofür der US-Darsteller auch einen Preis erhielt. Der Film versucht zwar die Welt aus den Augen des Malers zu sehen, indem er er subjektive Blickwinkel einnimmt. Letztlich behält er aber doch kunstgewerbliche Züge, da er die Bilderwelt Van Goghs zu direkt, zu wörtlich übersetzt.

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Anders als Florian Henckel von Donnersmarcks Werk ohne Autor interessiert sich Schnabel jedoch ernsthaft für Kunst. Der deutsche Wettbewerbsbeitrag hält sich eng an die Vita von Gerhard Richter, vermag aber nur auf recht einfältige Weise vom Wechselverhältnis von Kunst und Leben zu erzählen. Die über dreistündige Arbeit gliedert sich in drei Abschnitte: Kindheit, Studium, Durchbruch. Der Euthanasietod der geliebten Tante in der NS-Zeit wird zu jenem Trauma, das es dann mit hanebüchener Melodramatik aufzulösen gilt.

Vieles an diesem Film wirkt moralisch schief, etwa eine Szene im Inneren einer Gaskammer, auf welche prompt die Bombardierung von Dresden folgt. Werk ohne Autor, für Deutschland im Rennen um einen Oscar, ist schon deshalb in einem Zwiespalt mit sich selbst, weil es mit einer denkbar traditionellen Ästhetik einen modernen Künstler bei der Hand nimmt.

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Gespaltenes Land: Wenn es am Lido politisch wurde, ging es mit Sicherheit um die USA. Gleich drei Dokumentarfilme nahmen die wachsende Kluft innerhalb der Bevölkerung ins Visier. Roberto Minervinis What You Gonna Do When the World’s On Fire beschreibt anhand der schwarzen Protagonisten aus New Orleans, wie die Abwehr rassistischer Gewalt immer noch den Alltag, das Aufwachsen definiert. Monrovia/Indiana von Frederick Wiseman wirkt dagegen wie ein Trip zum Mond. Der Film besucht eine weiße Gemeinde, in der Trump zwar nie erwähnt wird, aber wie ein Phantom über dem Stillstand schwebt. Errol Morris wiederum holte in American Dharma mit Steve Bannon einen der Stimmungsarchitekten des rechten Amerikas vor die Kamera und lässt sich von ihm erklären, wie er den Wahlkampf mitentschieden hat.

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Nach diesen drei Filmen blieb das bange Gefühl, dass die Menschen sich immer weiter voneinander entfernen. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 9.9.2018)