Während der "Weißen Nächte" in St. Petersburg geht die Sonne nicht unter. Russland hat 2014 die Sommerzeit abgeschafft.

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Genauso wie jedes Jahr Ende März und Ende Oktober die Zeitumstellung ansteht, genauso wird jedes Jahr darüber diskutiert, ob die Zeigerschieberei eigentlich sinnvoll oder sinnlos ist. Im STANDARD-Forum geht es bei dem Thema regelmäßig rund, Einigkeit herrscht selbstverständlich nicht. Aber jetzt hat sich tatsächlich was getan.

Die EU-Kommission hat eine Online-Umfrage zur Zeitumstellung durchgeführt. Das Ergebnis: Die Mehrheit derjenigen, die abgestimmt haben, will die Zeitumstellung abschaffen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat daraufhin angekündigt, dass es der Zeitumstellung an den Kragen geht. Die Kommission will die Zeitumstellung bis Oktober 2019 beendet haben.

Sebastian Fellner, Michaela Kampl, Karin Pollack, Daniela Rom und Leopold Stefan haben sich in der STANDARD-Redaktion mit der Frage auseinandersetzt. Eines Vorweg: Sie sind sich nicht einig. Die zentrale Anfangsfrage lautet: Ist die Zeitumstellung egal oder total egal?

Michaela Kampl: Mir ist das sogar so richtig total egal. Und ich verstehe auch nicht, warum das derzeit so viele interessiert. Ja, klar, es gab diese Umfrage der EU-Kommission. Da haben Leute abgestimmt, auch in den STANDARD-Foren ging es rund. Langsam ärgere ich mich sogar, dass das Thema so präsent ist und jeder was dazu sagen will. Oder halt muss. Aber ja, nicht alles, worüber wir reden, muss auch politisch relevant sein. Aber gerade tun alle so, als wäre die Zeitumstellung das.

Daniela Rom: Ich bin da bei dir, Michi. Mir ist das auch eher egal. Vor allem fände ich es sehr unfair, wenn sie das jetzt abschaffen, wo ich mir grad mal gemerkt habe, wann wir die Uhr vor- und wann wieder zurückdrehen. Ich halt's auch ein bisserl für das übliche Gesudere. Jedes Jahr behaupten Leute, sie würden unter "Jetlag" wegen der einen Stunde leiden. Was tun sie, wenn sie in die USA fliegen oder nach Asien? Ein Wunder, dass das überhaupt wer überlebt.

Karin Pollack: Es ist überhaupt nicht egal. Ich denke an die vielen Eltern, die ihre Kinder ins Bett bekommen müssen oder sie aufwecken. Die Umstellung bringt Schlafenszeiten durcheinander. Im Sommer gehen die Kinder viel später ins Bett, sind am nächsten Tag weniger ausgeruht. Das stresst viele Familien. Oder Menschen, die ohnehin Schlafstörungen haben – oder Schichtarbeiter: All diejenigen, die es sich eben nicht aussuchen können. Das kann einem doch nicht egal oder ganz egal sein. Wo ist eure Solidarität mit den Schwächeren dieser Gesellschaft?

Zeit ist ein Konstrukt, ein ausgedachtes Regelwerk. Die EU will jetzt dieses Regelwerk ändern. Angeblich, weil die Bürger das wollen.
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Michaela Kampl: Ich erlaube mir hier ausnahmsweise Ignoranz und mache einen Zwischenwurf für Eselsbrücken: spring forward, fall back. Die mir liebere Eselsbrücke ist aber: Im Sommer stellen s' beim Wirten die Sessel raus vors Lokal, und im Winter holen sie sie wieder rein – also hinter. Soll ich das jetzt alles umsonst gelernt haben?

Daniela Rom: Meine Rede! Und: Die Schanigarten-Eselsbrücke ist die einzige Eselsbrücke, die ich dazu kenne. Wenn ich die Zeit nicht mehr umstellen muss, weiß ich gar nicht mehr, wie sich sich Uhren am Backofen oder am Radiowecker einstellen lassen. Wär ja auch ein Wissensverlust.

Michaela Kampl: Ich frage mich jetzt, was das als Nächstes passiert. Ist das alles nur ein Sturm im Wasserglas? Klima, Sozialsysteme, Steuerpolitik. Ich glaube, Juncker war auch genervt, als er da im ZDF irgendwo in der bayerischen Pampa angekündigt hat, dass die Zeitumstellung fällt. Aber es kann auch sein, dass Deutsch mit französischem Akzent immer leicht genervt klingt.

Der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker über die Ergebnisse der Umfrage zur Zeitumstellung: "Die Menschen wollen das, wir machen das."
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Leopold Stefan: Die Zeitumstellung mag nicht so schlimm sein, aber sie nervt zumindest zwei Nächte im Jahr jeden.

Sebastian Fellner: Mich nicht so sehr. Alle Uhren, die ich nutze, stellen sich mittlerweile automatisch um. Und ich schlafe sowieso immer zu wenig und zu unregelmäßig, da macht eine Stunde echt keinen Unterschied für mich.

Karin Pollack: Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass es nur zwei Nächte im Jahr sind, die ein bisschen schwieriger sind. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass unsere Gesellschaft an Schlafmangel leidet. Jetzt höre ich euch schon sagen, dann geht halt früher ins Bett, aber so einfach ist das nicht. Wenn es erst um zehn Uhr dunkel wird, dann dauert es, bis der Organismus abschaltet – und am nächsten Tag in der Früh weckt dich das Licht tendenziell früher wieder auf. Das ist keine Frage der persönlichen Entscheidung, wir sind da irgendwie Tiere. Unangenehme Wahrheit, aber so ist das.

Leopold Stefan: Seit ich denken kann, ist die nutzlose und nervige Umstellung ein Symbol dafür, wie wir als Masse, als Gesellschaft oft dumm und unflexibel sind. Hier geht es nicht um Minderheitenrechte, nicht um starke Wirtschafts- oder Öko- oder Bauernlobbys, die aufgrund hoher Gewinne eine apathische Mehrheit vor sich hertreiben.

Karin Pollack: Das Traurige daran ist, dass man sich für die Sommerzeit ausspricht, weil man dann am Abend länger im Gastgarten sitzen kann. In Wirklichkeit arbeiten wir dann einfach mehr.

Leopold Stefan: Wenn es die EU nicht schafft, diesen Nonsens einzustellen, posaunt sie in die ganze Welt: "Wir sind komplett unfähig." Das Bild von der Union als überbürokratischem Dampfplauderverein ist schlimm genug, aber wenn sie nicht einmal mehr den belanglosen Kleinkram wie das Ende der Zeitumstellung ohne jedweden Gegenwind hinkriegt, ist es schlimm bestellt um das "Friedensprojekt Europa". Wehret den Anfängen! Aber was meint ihr? Vielleicht täusche ich mich und die europäische Gesellschaft ist stark gespalten zwischen einer permanenten Winterzeit und einer permanenten Sommerzeit. White Walker gegen Drachen quasi.

Michaela Kampl: Von wegen Mehrheit: Bei dieser Umfrage haben 4,6 Millionen Menschen abgestimmt. 80 Prozent wollen ihre Uhren nicht mehr umstellen. In der EU leben insgesamt rund 500 Millionen Menschen. Abgestimmt hat also rund ein Prozent der EU-Bevölkerung. Demokratisch ist was anderes. Ich bin mir nicht sicher, ob die Kommission da nicht einer vermeintlichen Mehrheit das Wort redet. Von wegen die Bürger wollen das. Das ist vielleicht gar nicht der Fall. Derzeit wissen wir das einfach nicht.

Leopold Stefan: Stimmt, das kann sein. Dann müsste man eben ein repräsentatives Referendum machen. Gleichzeitig mit der EU-Wahl kommenden Mai würde sich anbieten. Dann hätte die Sache demokratische Legitimation. Das Thema ist auch nicht zu technisch, dass man es nur in Expertengruppen austüfteln kann.

Sebastian Fellner: Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster und sage: Am Ende ist eine Umstellung viel zu kompliziert und mühsam, als dass sie es tatsächlich durchziehen. Ich halte das für ein Sommerlochthema, das genug Menschen gerade so sehr interessiert, dass sie halt mitdiskutieren. Und dass die Umfrage alles andere als repräsentativ war, wissen mittlerweile auch alle. Eure Eselsbrücken verwirren mich übrigens nur noch mehr, ich google das einfach zweimal im Jahr.

Karin Pollack: Ich bin überhaupt nicht eurer Meinung. Ich finde es super, dass die EU diese Umfrage macht. Da beschwert man sich immer, dass die Kommission bürgerfern ist und irgendwo in Brüssel irgendwelche Entscheidungen trifft. Und dann gibt es diese Umfrage, und dann beschwert man sich erst recht. Vor allem: Die Argumente für oder gegen die Zeitumstellung sind nicht besonders schwer zu begreifen. Dass man sich für die ewige Sommerzeit entscheidet, ist traurig. Wenn ich mir vorstelle, dass es Probleme gibt, die weit vielschichtiger sind und man die Menschen "aus dem Bauch heraus" mitentscheiden lässt, würden viele falsche Entscheidungen getroffen. Das ist ein Armutszeugnis für mündige Bürger, finde ich.

In Reykjavík, der Hauptstadt von Island, scheint die Sonne im Sommer auch zu Mitternacht. Eine eigene Sommerzeit haben die Isländer aber nicht – es ist ohnehin lang genug hell.
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Daniela Rom: Ich glaube ja auch, dass das deswegen so gerne diskutiert wird, weil man sich da so herrlich aufregen kann, und die EU wittert da die Chance, einmal eine (vermeintlich) populäre Sache umzusetzen. Zumindest das eine Prozent, das abgestimmt hat, wird sich freuen. Soweit ich das mitgekriegt habe, gibt es aber auch noch null Plan, welche Zeit dann das ganze Jahr lang gilt. Und jedes Land soll sich aussuchen können, ob es Winterzeit oder Sommerzeit haben will. Da wünsch ich uns allen schon mal viel Spaß mit den zig Zeitzonen, die wir dann in Europa haben werden. Ich will im Sommer schon gerne bis 21.30 im Hellen draußen sitzen können, und im Winter wär's mir schon lieber, ist es nicht erst um 9 Uhr hell. Aber gut, da sind die Geschmäcker auch verschieden. Weniger Gesudere wird eine Abschaffung der Sommerzeit vermutlich halt auch nicht bringen.

Karin Pollack: Ich bin gegen eine übermüdete Gesellschaft. Schlafmangel macht depressiv. In Österreich gibt es 900.000 Menschen mit Depressionen, und wenn Übermüdung ein möglicher Faktor ist, ist es die Aufgabe von Politik, hier gegenzusteuern.

Michaela Kampl: Übermüdung als Problem streite ich ja nicht ab. Ich bezweifle aber, dass daran die Zeitumstellung schuld ist. Und die Frage, wann es hell wird, halte ich für vernachlässigbar. Ich habe mal ein Jahr in Kopenhagen gelebt, da wurde es im tiefen Winter erst so gegen neun richtig hell. Ich und alle Dänen haben das überlebt. Müssen halt ein bissi länger das Licht einschalten, und am Abend blinken dann Lichterketten und Kerzerln, und das vermarkten sie dann als Hygge – und alle wollen hinfahren, weil's ja so gemütlich ist.

Karin Pollack: Es geht doch überhaupt nicht ums Überleben, sondern ums gut Leben. Die nordischen Länder haben ein gewaltiges Problem mit Depressionen, Finnland zum Beispiel, Litauen, Estland. Die sind depressiv. Viele trinken deshalb, es gibt extrem viele Alkoholkranke. Und die Dänen: Die, die es sich leisten können, fahren in allen Ferien in die südlichen Länder, weil sie die Dunkelheit nicht aushalten.

Sebastian Fellner: Es ist sowieso zu wenig hell im Winter, ob das jetzt in der Früh oder am Abend ist, macht für mich keinen Unterschied. Ich habe eine Tageslichtlampe. Mensch 1, Natur 0.

Karin Pollack: Ich war mal eine Woche auf einer Berghütte ohne Strom. Da geht man automatisch um halb zehn ins Bett und steht automatisch ganz in der Früh auf. Das verändert das Leben total. Ich war nach diesem Urlaub sehr erholt, ein super Gefühl. Was aber nicht heißt, dass ich gegen Strom bin.

Leopold Stefan: Das Ganze ist ein Kampf zwischen Frühaufstehern und Langschläfern. Ich zähle mich zu Letzteren. Wir haben die A-Karte gezogen in unserer Gesellschaft und biologisch – außer als Studenten. Denn Langschläfer haben einen anderen circadianen Rhythmus. Das ist der natürliche 24-Stunden-Tag in unseren Zellen. Nur sind es selten exakt 24 Stunden. Wenn ich, sagen wir, 25-Stunden-Tage in mir drinnen habe, werde ich später müde am Abend. Mein Körper glaubt, dass der Tag noch ein bissl länger dauert. Darum sind wir Langschläfer auch abends munter und aktiv, selbst wenn wir Frühdienst am Newsdesk hatten. Die Rechnung bekommen wir am nächsten Morgen, wenn wir gar nicht in die Gänge kommen, weil wir eine Stunde auf Pump gelebt haben, die am Ziffernblatt nicht vorgesehen ist. Einen chronologischen Währungsfonds samt Bailout gibt es für uns auch nicht.

Die Zeiten in der Grafik beziehen sich auf GMT (Greenwich Mean Time). In Österreich gilt die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) – derzeit eben Mitteleuropäische Sommerzeit (MESZ). Die Differenz zur GMT beträgt eine Stunde. Wenn also in London am 1. Jänner um 16 Uhr die Sonne untergeht, wird es in Wien um 17 Uhr finster.
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Leopold Stefan: Also, was könnten wir machen? Wenn wir die permanente Sommerzeit einführen, hätten wir Anfang Jänner Sonnenaufgang um kurz nach neun. Einigermaßen hell ist es bekanntlich schon 45 Minuten davor. Dafür hätten wir am Abend bis halb sechs Sonne. Im Sommer geht die Sonne derzeit fast vier Monate lang vor 6 Uhr auf. Würden wir die permanente Winterzeit einführen, hätten wir sogar Sonnenaufgänge im Juni um 4 Uhr – und etliche Monate vor 5 Uhr. Das sind verschenkte Lichtstunden, die noch dazu die schlafende Bevölkerung ohne Blackout-Hotelvorhänge sehr irritieren. Für EU-Länder wie Spanien wäre die gleiche Zeitzone wie die von Portugal naheliegender als jene Ostpolens. Auch die Franzosen könnten ja springen. Das macht das Ganze zwar noch komplizierter, aber am Ende sind fast alle besser dran. Bis auf die Jalousienlobby. Oh wait ... Mist. Des wird nix.

Cher singt über die Möglichkeiten der Zeitumstellung.
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Karin Pollack: Nur eines noch: Die Leute in Spanien leben anders. Sie machen zu Mittag eine Siesta. Das ist kein Zufall. Es wäre auch super, wenn man früher zu arbeiten aufhören könnte oder die Schule später beginnt. Die Kurz-Partei ist für die ewige Sommerzeit, weil die Menschen dann automatisch länger arbeiten. Das ist unternehmerfreundlich.

Daniela Rom: Ich prophezeie: Der Ausstieg aus der Zeitumstellung wird genauso lange dauern wie der Brexit. Am Schluss wird's allen zu deppert sein, und alles bleibt, wie es ist.

Leopold Stefan: Das geht mir auf den Zeiger. (Sebastian Fellner, Michaela Kampl, Karin Pollack, Daniela Rom, Leopold Stefan, 14.9.2018)