Viktor Orbán in Brüssel, gegen das er einen "Freiheitskampf" führt.

Foto: APA/AFP/LUDOVIC MARIN

In den vergangenen acht Jahren hat sich in Ungarn eine verkümmerte Variante des politischen Pluralismus entwickelt. Sie ist nationalradikal, nur oberflächlich ideologisiert, autoritär, rassistisch und korrupt. Sie stützt sich nicht auf eine feste Weltanschauung, und obwohl sie im Vergleich zur bürgerlichen Demokratie auf Unterdrückung ausgerichtet ist, fehlt ihr die Brutalität eines Polizeistaates.

Nach den Wahlen 2018 hat sich ein stabiles Gesellschaftsmodell durchgesetzt. Dessen wichtigstes Merkmal: Politik wurde zur Privatsache, Ämter sollten zumeist Fällen privaten Interesses dienen und Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen werden. Dieser verkümmerte Pluralismus wurde durch die dramatische Schwächung des Mehrparteiensystems und der unabhängigen Medien erst möglich. Bester Beweis für die Stabilität des Systems ist, dass der Ministerpräsident es ohne weiteres fertigbringt, jeden wichtigen Akteur des politischen und wirtschaftspolitischen Lebens zu Fall zu bringen, damit kann die bis zum Äußersten zentralisierte Führung nicht einmal mehr durch innere Rivalitäten gestört werden.

Dieses neue politische System kann mit klassischen Begriffen nicht beschrieben werden. Es ist seiner Natur nach eigentlich kein politisches System, wo sich die Dinge durch Prinzipien oder entlang den Interessen breiterer Gesellschaftsschichten entwickeln. Seine Verwaltung ähnelt eher der eines Gutshofs. Da werden nicht die Bürger und in ihrem Namen handelnde Vertreter benötigt, sondern Gutsverwalter und Dienstboten. Das charakterisiert nach dreißig Jahren die neue, zweite Wende in Ungarn.

Proteste ersticken

Die Stabilität dieses Systems wird davon abhängen, wie es reagiert, wenn die mäßig wachsende Wirtschaft des Landes stagniert. Dem Anschein nach funktioniert die Vereinbarung mit einem bedeutenden Teil der Gesellschaft vorerst gut. Der bescheidene, stetig wachsende Lebensstandard kann die Unterstützung der Staatsmacht gewährleisten oder wenigstens sicherstellen, dass die Machthaber sich nicht mit nennenswertem Widerstand herumplagen müssen. Dazu bedarf es der Möglichkeit, jeden Widerstand ohne Verzögerungen abzuwehren. Das wird erreicht mit Enteignung der staatlichen Institutionen und Ressourcen, mit Bestechung, mit Gleichschaltung der Medien. Das erklärt, warum die Staatsmacht sich sofort auf den kleinsten Protest stürzt, um ihn im Keime zu ersticken. Sie will jede Möglichkeit ausschließen, dass eine nicht kontrollierbare alternative Bewegung entsteht.

Auch wenn sie schon auf dem Rückzug war, so war bis jetzt die Logik der Zeit zwischen 1989 und 2018 immer noch am Leben. Wenigstens im Prinzip. Die Printmedien waren nämlich bunter, dem jüngeren Publikum musste die Demokratie nicht von null auf erklärt werden. Es gab auch im Regierungslager Politiker, deren rechtsstaatliches Verständnis sich noch gelegentlich an der Sprache und den Regeln des Pluralismus orientiert hatte. Die Ära der bürgerlichen Demokratie ist nicht von heute auf morgen verschwunden, vielmehr wurden ihre Gepflogenheiten, Reflexe und Regeln aus dem öffentlichen Leben Ungarns allmählich verbannt. Erst jetzt ist die Annahme unrealistisch geworden, dass es genügt, bestimmte Übertreibungen zu korrigieren, um damit in Ungarn erneut eine Demokratie zu schaffen.

Das Wahlergebnis von 8. April 2018 hat das neue System stabilisiert. Diesmal hat Fidesz, wie schon 2010, erneut die zur Änderung des Grundgesetzes benötigte Zweidrittelmehrheit erhalten. Damit wurde deutlich, dass die politische Debatte im Parlament nicht nur vorübergehend in den Hintergrund gerückt, sondern vollkommen bedeutungslos geworden ist. Wenn man über nichts diskutieren muss, ist jede Debatte im Parlament gänzlich vergebens.

Opposition als Zierde

Die Parteien der Opposition zeigen Auflösungserscheinungen. Sie reiben sich in parteiinternen Machtkämpfen auf, ihre Führer haben versagt. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Die einzig stabile oppositionelle Partei ist die demokratische Koalition unter der Führung des ehemaligen Premiers Ferenc Gyurcsány, sie kommt aber nie über fünf bis sechs Prozent. An ihrer Existenz hat die Orbán-Regierung fundamentales Interesse. Solange Gyurcsány als Opposition im Parlament sitzt, ist der demokratische Anschein von Viktor Orbáns Regime sowohl im Ausland als auch in Ungarn gewährleistet.

Normalerweise konkurrieren in einer Demokratie die wichtigsten Medien darum, Fragen so genau wie möglich zu erklären und zu beantworten. Da die Abgeordneten der Regierungspartei Fidesz den Fragen der Journalisten einiger noch existierender freier Medien meistens keine Beachtung schenken, kann die Öffentlichkeit über die Hintergründe dieser Entscheidungen kaum etwas erfahren. Die Entscheidungsträger haben den Kontakt mit dem Volk auf diese Weise total verloren.

Von Demokratie kann keine Rede sein, wenn die Wähler keine Chance haben nachzuvollziehen, was über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Mindestens gleich problematisch ist, wenn Politiker keine Ahnung haben, was man von ihnen erwartet. Niemand kann sich sicher fühlen, wenn man selbst alte Verbündete ohne jede plausible Begründung in den Dreck ziehen kann oder landesweit bekannte Persönlichkeiten ohne weiteres beleidigen oder in die Wüste schicken darf.

Heute regt sich niemand mehr auf, dass Orbáns Lieblingsoligarch Lörinc Mészáros und seine Familie an jedem Werktag seit den Wahlen am 8. April 1,2 Milliarden Forint (rund 400.000 Euro) aus Steuergeldern erhalten haben. So viele öffentliche Zuschüsse gibt es gar nicht, als dass man diese nicht ohne jede Konsequenz ins Privatvermögen der Machthaber fließen lassen könnte.

Öffentliche Angelegenheiten werden auch in diesem Sinne zur Privatsache, der Unterschied zwischen dem Vermögen des Landes und dem Vermögen der Mächtigen ist langsam so verschwommen, dass dieser Unterschied heute nicht mehr zu erkennen ist. Wie die Macht zur Privatsache wurde, veranschaulicht auch die Tatsache, dass in Ungarn jegliche Forderung nach Rechenschaft oder Kontrolle der machthabenden Politiker im Wesentlichen eingestellt wurde. Werden doch hin und wieder Machenschaften enthüllt, drohen keine Folgen. Es gibt kaum noch Medien, in denen solches überhaupt noch auftauchen könnte. Diese Politik ohne jedes Risiko bewirkt nichts anderes als dumpfe Gleichgültigkeit.

Verheerte Generationen

Selbst die Akzeptanz eines Gesetzes ist in Ungarn jetzt Privatsache, und auch das wird von der Mehrheit der Bürger stillschweigend gebilligt. Nun wächst eine neue Generation heran, die bereits in diesem System geboren ist. Ein System, das der Macht keine Grenzen setzt, Nachfragen nicht duldet und in dem nur auf persönlichen Beziehungen und Freundschaftsdiensten basierende, unerlaubte Wege zum Erfolg führen.

Das gilt nicht nur im Irrgarten der Ämter und Behörden, sondern auch im Geschäftsleben. Vom Antrag für gemeinnützige Tätigkeit bis zur Genehmigung des Betriebs einer Gaststätte kann heutzutage in Ungarn alles eine Frage der Zugehörigkeit zur Regierungspartei Fidesz sein. Deshalb ist das jetzige Ungarn näher an einem totalitären Regime anzusiedeln als an einer bürgerlichen Demokratie. Die politische Macht breitet sich nicht unbedingt auf allen Gebieten aus, aber dort, wo sie es tut, kann man nicht gegen sie ankämpfen.

Eine wichtige Besonderheit des sich neu festigenden Systems ist, dass seine Ideologie auf besonders schwachen Grundlagen beruht. Das macht den Unterschied aus im Vergleich mit früheren autoritären ungarischen Regimes. Dazu kommt, dass es sich keine bedeutende kulturelle, wissenschaftliche oder technologische Ziele setzt. Feinde hat man wohl, aber sie sind mehrheitlich physisch nicht anwesende Personen und Gruppen, die eher als rhetorische Requisiten fungieren. Auf der Regierungsseite zeigt sich Kreativität nur beim Konstruieren von Gesetzen und Verordnungen, die Privatinteressen dienen.

Da sind aber hervorragende Leistungen zu vermelden: Wie kann man mit staatlichen Verordnungen, mit trickreich formulierten Wettbewerbsbedingungen immer mehr Steuergelder auf Privatkonten transferieren? Die günstige Seite dieser ideologischen Leere ist Flexibilität, nichts ist in Stein gemeißelt, alles ist möglich – und auch dessen Gegenteil. Was zählt, ist: "Was bringt mehr Stimmen bei der Wahl?"

Darum braucht das System auch keine polizeistaatlichen Methoden, obwohl es über alle Mittel zur aktiven Unterdrückung verfügt. Die ideologische Oberflächlichkeit und die totale Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen Angelegenheiten sind im Einklang mit der Privatisierung der Politik. In den Fokus ist das Fördern von persönlichen Geschäftsinteressen der Machthaber gerückt. Die neue Wende in Ungarn ist ein privates Unternehmen, das mit politischer Gemeinschaft, Verantwortung für Land und Leute nichts mehr zu tun hat. (Péter Magyari, 10.9.2018)