Gangesgaviale zählen zu den ältesten Tierarten überhaupt und haben mehr Zähne als jede andere noch lebende Krokodilart.

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Sie sehen furchterregend aus, sind für Menschen aber keine Gefahr.

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Über dem Narayani in Nepal geht der orangerote Ball der Sonne unter und wirft ein rubinfarben glitzerndes Band in die Strömung.

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68 Säugetierarten, 49 Amphibien- und Reptilien- sowie etwa 650 Vogelarten haben Zoologen im Nationalpark verzeichnet, mehr als in jedem anderen Naturraum des Landes.

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Anders als in weiten Teilen Afrikas, wo bewaffnete Banden in den letzten zehn Jahren tausende Breit- und Spitzmaulnashörner niedermetzelten, erholen sich in Nepal die Bestände der Panzernashörner wieder.

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Die friedlichen Tiere werden von der Armee beschützt.

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Eine Herde überquert den Rapati.

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Der Saurier bewegt sich nicht. Wie ein angeschwemmtes Fossil liegt die Echse am Flussufer und lässt sich die Nachmittagssonne auf den gepanzerten Rücken scheinen. Langsam nähert sich das Boot dem sonderbaren Reptil mit der langgezogenen Schnauze. "Nur wenige Menschen bekommen heute noch einen Gavial in seinem natürlichen Lebensraum zu sehen", flüstert Arjun Tamang.

Durch sein Fernglas beobachtet der junge Guide das dösende Urkrokodil. Mit seinen über hundert Zähnen, die wie ein Reißverschluss aus spitzen Dornen von Ober- und Unterkiefer ineinanderragen, sieht es wahrhaft prähistorisch aus. Gangesgaviale haben mehr Zähne als jede andere noch lebende Krokodilart. Der Bootsführer steuert den Kahn mit seiner Bambusstange näher an die Sandbank, aber die Strömung treibt ihn flussabwärts.

Entfernte Verwandte

"Gaviale gehören zu den ältesten Tierfamilien und sind nur entfernt mit anderen Krokodilen verwandt", erklärt Tamang, während sein Boot weiter den Rapti-Fluss in Nepals Chitwan-Nationalpark hinunterschippert. "Sie können bis zu sieben Meter lang werden und sind die längsten Krokodile der Welt." Tatsächlich gibt es historische Berichte, die diesen Rekord bestätigen. Nil- und Salzwasserkrokodile werden jedoch vereinzelt heute noch über sechs Meter lang.

In den letzten Jahrzehnten wurden kaum noch Gaviale beobachtet, die länger als fünf Meter waren. Rekordverdächtig sind sie dennoch – aus einem traurigen Grund. Die Tiere gehören zu den seltensten Reptilien der Welt. "Wir haben heute nur noch 198 wilde Gaviale in Nepal", sagt Tamang, "das sind weit weniger, als uns Nashörner geblieben sind. Nur interessieren sich viel weniger Menschen für Reptilien als für Säugetiere."

Wo der Rothund herumstreift

Laut Weltnaturschutzunion ist die Zahl der Gangesgaviale seit der Mitte des 20. Jahrhunderts um bis zu 98 Prozent zurückgegangen. Damit gehören sie zu den bedrohtesten Tieren Südasiens überhaupt. Einst waren sie in zahlreichen Flüssen von Pakistan bis Myanmar verbreitet. Heute kann man sie fast nur noch hier und in einigen wenigen anderen Schutzgebieten in Nepal und Indien beobachten.

Die meisten Touristen, die Nepal besuchen, zieht es einzig in den Himalaja. Diejenigen, die dem Chitwan-Nationalpark im Süden des Landes einen Abstecher einräumen, wollen vor allem die Panzernashörner und Tiger sehen. Nur wenige wissen, dass es hier im Terai, jener einst dicht bewaldeten, von Sümpfen durchzogenen Tiefebene, die sich in Richtung Indien erstreckt, sehr viel mehr zu entdecken gibt.

Durch den Dschungel streifen noch immer wilde Elefanten, Leoparden, Rothunde, Lippenbären und Gaurs, die größten Wildrinder der Erde. 68 Säugetierarten, 49 Amphibien- und Reptilien- sowie etwa 650 Vogelarten haben Zoologen im Park verzeichnet, mehr als in jedem anderen Naturraum des Landes. Mit 932 Quadratkilometern ist der Nationalpark nur wenig größer als das Stadtgebiet von Berlin. Zusammen mit dem im Osten angrenzenden Parsa-Nationalpark und dem Valmiki-Tigerreservat jenseits der indischen Grenze ist Chitwan allerdings Teil eines weiträumigeren Schutzgebiets.

Lebendes Fossil

Tamangs Boot gleitet vorbei an dichtem Urwald. Kormorane, Flusskiebitze und Rostgänse tummeln sich auf dem schmalen Uferstreifen. Smaragdfarben schillernde Bienenfresser segeln durch die Luft, und eine Schlangenweihe späht von einem abgestorbenen Baum nach Beute. Auf einer Sandbank liegen zwei fette Sumpfkrokodile. Die entfernten Verwandten der Gaviale erreichen zwar nicht deren Länge, furchteinflößend sehen aber auch sie aus. "Als ich zehn oder elf war, wurde ein Nachbarjunge von einem Sumpfkrokodil angefallen", erzählt Tamang. "Ein Freund schlug mit einem Stock auf es ein, bis es von ihm abließ. Der Junge kam mit einem zerfetzten Bein davon."

Der 25-jährige Tamang ist in einem Dorf am Rand des Nationalparks aufgewachsen. Seine Großeltern zogen in den 1970er-Jahren aus dem Himalaja in den Süden. Neues Ackerland durch trockengelegte Sümpfe und die weitgehende Ausrottung der Malaria versprachen ein besseres Leben als in den Bergen. "Als Kinder lernten wir, beim Spielen am Fluss immer nach den Sumpfkrokodilen Ausschau zu halten", erzählt Tamang. "Neben den Gavialen konnten wir aber sorglos schwimmen. Manchmal machten wir uns einen Spaß daraus, sie von ihren Sandbänken zu verscheuchen." Auf dem Speiseplan der Gangesgaviale stehen vor allem Fische. Für den Menschen sind sie nicht gefährlich. Dennoch hat er das lebende Fossil innerhalb weniger Jahrzehnte an den Rand der Ausrottung gebracht.

Unüberwindbare Hindernisse

"Die Zerstörung der Lebensräume, die Verschmutzung der Flüsse und die Überfischung haben dem Gavial so zugesetzt", sagt Bed Bahadur Khadka. Der Nepalese ist Herr über 600 Krokodilkinder im Gavialzentrum von Chitwan. Hier werden von Zerstörung bedrohte Gelege ausgebrütet und die Nestlinge bis zu ihrer Freilassung in die Flüsse der Nationalparks aufgezogen. Der Größe nach getrennt werden sie in flachen Becken gehalten, bis sie etwa anderthalb bis zwei Meter lang sind und damit sicher vor den meisten Fressfeinden.

"Wir haben seit 1978 mehr als 1.200 Gaviale im Rapti, im Narayani und in anderen Flüssen ausgesetzt", erklärt Khadka, "aber etwa 75 Prozent verlieren wir flussabwärts nach Indien." Die meisten der während der Monsunregen über die Grenze geschwemmten Tiere kehren nie wieder an ihren Geburtsort zurück, weil Staudämme für sie zum unüberwindbaren Hindernis werden. "Manchmal schicken uns indische Kollegen Fotos von ihnen", sagt Khadka, "aber dort gibt es kaum noch geeignete Lebensräume." Der Verlust naturnaher Flussabschnitte macht auch anderen Arten zu schaffen. Vom Gangesdelfin, der einst in vielen Flüssen im südlichen Nepal verbreitet war, werden heute nur noch vereinzelte Sichtungen dokumentiert. Unter der immer weiter fortschreitenden Zerstörung von Feuchtgebieten in Südasien leidet auch die Fischkatze, ein fast luchsgroßer Räuber, der in Flussauen und Sümpfen jagt.

Koloss in der Nachmittagssonne

Erst vor wenigen Wochen hüpfte in Chitwan ein junges Borstenkaninchen in eine Fotofalle. Der struppige Kleinsäuger war seit 1984 nicht mehr gesichtet worden. Wissenschafter hoffen nun, dass der Erhalt des natürlichen Schwemmlands im Park der bereits totgeglaubten Art das Überleben sichern wird. "Das Terai war seit der Zeit der Dinosaurier Heimat der Gaviale", sagt Khadka, "aber es bleibt fraglich, ob unsere Urenkel sie noch in der Natur beobachten können." Tamangs Boot ist fast an der Mündung des Rapti in den Narayani angekommen, als er mit dem Fernglas am anderen Ufer ein wahres Ungetüm entdeckt: Rhinoceros unicornis – das Panzernashorn. Der Koloss hat sich mit der sinkenden Nachmittagssonne und der langsam weichenden Hitze aus der Deckung des Waldes gewagt, um am Ufer zu äsen.

"Heute gibt es in Chitwan wieder mehr als 600 Nashörner", sagt Tamang. "Von hier aus wurden sie auch in zwei andere Schutzgebiete in Nepal ausgewildert." 1973, vor der Gründung des Nationalparks, gab es nur noch um die 100 Nashörner im Terai. Seither werden sie von der Armee beschützt. Während des Bürgerkriegs zwischen Maoisten und Monarchisten von 1996 bis 2006 fielen etliche Tiere Wilderern zum Opfer. Inzwischen ist die Situation aber weitgehend unter Kontrolle. Anders als in weiten Teilen Afrikas, wo bewaffnete Banden in den letzten zehn Jahren tausende Breit- und Spitzmaulnashörner niedermetzelten, erholen sich in Nepal die Bestände der Panzernashörner wieder. "Die Leute hier wissen, dass die Tiere für sie lebend viel mehr wert sind als tot", sagt Tamang, "ohne die Nashörner würden kaum noch Touristen nach Chitwan kommen."

Phlegmatische Dickhäuter

Ihren deutschen Namen erhielten die Panzernashörner aufgrund ihrer an eine mittelalterliche Ritterrüstung erinnernden Hautschilde über Rücken, Schultern und Schenkeln. Dazu mag auch der berühmte Holzschnitt Albrecht Dürers von 1515 beigetragen haben, der dem Ungetüm zu dem stark hervorgehobenen Rückenpanzer auch noch kettenhemdartige Schuppen an den Beinen verpasste. Der Renaissancemaler hatte das Nashorn jedoch nie selbst zu Gesicht bekommen. Das vor Kraft strotzende "Rhinocerus" wirkte so noch furchteinflößender und prägte das Bild vom angriffslustigen Nashorn. Das Exemplar am anderen Ufer sieht jedoch mehr wie ein phlegmatischer Dickhäuter als wie eine Kampfmaschine aus.

Tamangs Boot ist an der Mündung des Rapti angekommen. Über dem Narayani geht der orangerote Ball der Sonne unter und wirft ein rubinfarben glitzerndes Band in die Strömung. "Von hier aus kann man an klaren Tagen die schneebedeckten Gipfel des Himalaja sehen", sagt Tamang. Er selbst hat jedoch nie Schnee berührt. "So viele Touristen kommen allein wegen des Mount Everest und der Achttausender nach Nepal", sagt der Guide, "aber eigentlich ist eine Reise ohne einen Besuch in Chitwan nicht komplett." Mit seiner Artenvielfalt ist die Heimat der Gaviale jedenfalls einsame Spitze. Und Rekordjäger haben es hier nicht schwer. Statt Steigeisen und Bergausrüstung genügt ihnen im Tal der Urkrokodile allein ein Fernglas. (Win Schumacher, RONDO, 14.9.2018)