Der öffentliche Raum ist ganz ordentlich in Gebrauch zurzeit, mehr denn je. Selten wurden so viele demonstrierende Gruppen, in kleineren oder größeren Formationen in den Nachrichten gezeigt wie in den letzten Monaten. Die Demonstrationen verliefen bei uns friedlich, anderswo war dies nicht der Fall, wie unlängst in Chemnitz. Aber es kann schnell so kommen, wenn eine der meist zwei aufeinanderprallenden Gruppierungen die Nerven verliert. Ausschreitungen werfen immer viele Fragen auf, über Politik, soziale Missstände oder fehlende Gerechtigkeit. Mich wundert, dass in diesem Zusammenhang niemand über die Architektur des öffentlichen Raums spricht. Über seine Qualität, darüber, was er zur Verfügung stellt und darüber, wie und wo die Leute miteinander ins Gespräch kommen (und wo sichtlich nicht), wo sie sich versammeln und wo die so wichtigen Streifzüge der Demonstrationen verlaufen.

Denn dazu sind die schmalen wie breiten Straßen ja auch da, nicht nur zum Fließen des Verkehrs, sondern auch zum Demonstrieren. Je breiter die Straße, desto besser lassen sich Menschenmassen organisieren. Aber desto übersichtlicher wird es auch. Das wusste schon der Stadtplaner Baron Haussmann im 19. Jahrhundert, als er von Napoléon III. beauftragt wurde, endlich etwas gegen die hässlichen Barrikaden zu tun, deren man nicht Herr wurde. Seitdem ist Paris durschnitten von Boulevards, die so breit sind, dass man, wenn man darin geht, nicht weiß, ob man sich längs oder quer zur Straße bewegt. Auf jeden Fall war es unmöglich, dort Barrikaden zu errichten. Heute sind Stadt und Politik, also Architektur und Gesellschaft weitgehend entkoppelt. Schade!

Wenn schon Barrikade, dann so! Ein Entwurf von Architekturstudierenden der Kunstuniversität Linz.
Foto: Olivia Kudlich, Julien Reinhart, Max Meindl
Öffentlicher Raum ist heute nicht auf Kontakt ausgerichtet, die Absperrgitter stehen immer bereit.
Foto: Sabine Pollak

Ein Platz ist noch lange keine Agora

Jede halbwegs größere Stadt in Griechenland hatte eine Agora. Was war aber die Agora? Was machte sie einzigartig? Auf jeden Fall ihre funktionale Organisation und ihr zugleich jeweils auf das Terrain maßgeschneiderter Zuschnitt. Agoras bestanden im antiken Griechenland aus den immer gleichen Gebäudetypologien, die einen freien Platz säumten. Man wusste also, worauf man sich einließ, wenn man sich auf die Agora begab. Hier ein halboffener Raum, in dem es zu essen und trinken gab, dort eine schattige Säulenhalle zum Umherwandeln, weiter oben das Gerichtsgebäude, die Akademie und vieles mehr. Die Gebäude waren genau eingeteilt und wichtig, die größere Bedeutung lag jedoch im offenen Raum. Man ging hier wahrscheinlich auch, um gesehen zu werden, vor allem jedoch, um seine Meinung mit anderen auszutauschen.

Gehen, um zu reden. Heute stehen und gehen wir und tauschen uns dabei mit unseren klugen Kästchen aus, der Blick nicht stolz erhoben, sondern demütig gesenkt. Sie meinen, es gibt auch heute genug Plätze? Nun ja, aber eine offene Fläche in der Stadt ist noch lange keine Agora. Es fehlen die Räume und vor allem die Regeln, wie man in eine gute Diskussion kommt. Öffentlicher Raum ist heute auf größtmöglichen Nicht-Kontakt ausgerichtet. Wenn mehr als drei Leute sich gruppieren, blinkt in Überwachungskameras eine Warnlampe. Da ist dann doch angeraten, die Kapuze aufzusetzen. Auf der Agora versammelte man sich zum täglichen Disput, zum Diskutieren und zum Erproben der Demokratie. Okay, es waren nur Männer zugelassen auf dem großen freien Platz, aber ich möchte heute einmal nicht so sein und die Genderfrage außer Acht lassen. Obwohl, wenn ich an Chemnitz denke, sind es Bilder von aufgebrachten Männermassen. Frauen waren derselben Meinung, hielten sich aber im Hintergrund, eine gute Entscheidung. 

Parolen sind ok, Agitation sicher auch, aber eine Agora sieht anders aus.
Foto: REUTERS/Hannibal Hanschke
Chemnitz, von oben betrachtet: Aus der Distanz ist der Hass nicht spürbar.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

Eine Agora 2.0 bräuchte es!

Dabei wäre genau das doch etwas, was man auch heute noch gut brauchen könnte. Ein Platz, nicht zu groß, ohne abgeschnittenen Karl-Marx-Kopf oder Denkmal gefallener Krieger (wer braucht das heute noch), dafür mit einer ganzen Reihe an kleinen, aber öffentlich zugänglichen Räumen ohne Konsumzwang, jeder mit einer eigenen Funktion. Hier streitet man zu zweit. Dort führen drei oder vier Leute ein Gespräch, hier werden Reden vor Publikum gehalten, dort gehen einzelne Personen herum und denken einfach nach.

Jeder Bezirk in Wien, jeder Stadtteil in Leipzig und jedes Hamburger Kiez sollte eine Agora bekommen. Es würde en vogue sein, sich öffentlich zu deklarieren, ohne dass Bierflaschen fliegen und Arme erhoben werden. Das Speakers Corner in London hat ähnliche Funktionen, ist aber etwas einseitig organisiert. Nein, mir würde etwas Kollektiveres vorschweben, eine Agora 2.0, klein, aber fein organisiert, offen und frei, ein urbanes Leo, in das man flüchten kann und nicht erwischt wird, wie es Kinder klugerweise vorsehen beim Abfangspiel. Natürlich würde eine solche Agora 2.0 verlangen, dass wir alle politisch interessiert sind und soweit der Sprache mächtig, um Ideen zu artikulieren. Aber nichts ist leichter zu lernen als eine halbwegs gute Artikulation, man muss nur beginnen damit. Sprache ist etwas, was wir alle gelernt haben. Sie kann, wenn elaboriert, ständig ausgebaut werden. Das Rausbrüllen von Parolen tut manchmal auch gut, es sollte aber die Ausnahme sein im Umgang mit anderen Leuten.

Der freie Raum der Agora in Athen, umsäumt mit unterschiedlichen Typologien.
Foto: Sabine Pollak

Wir Architektinnen und Architekten könnten eine Menge dazu tun. Zuerst sollten wir auch an unserer Sprache feilen, also reden statt zeichnen. Wir sollten auch politischer werden, die Vertreterinnen und Vertreter der Disziplin Architektur sollten Stellung nehmen zu aktuellen Ereignissen und sollte sich konstruktiv einbringen in die Debatte. Manifeste wurden früher schließlich auch von uns verfasst. Bevor wir uns also alle die Köpfe einschlagen lass uns einen Platz bauen, auf dem weder Eigeninteressen noch kultische Machtzentren dominieren, sondern wo einfach nur die Demokratie ausgeübt wird. Lass uns eine Agora bauen! (Sabine Pollak, 18.9.2018)

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