Jennifer Egan, "Manhattan Beach". Roman, aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens, € 22,00 / 502 Seiten. S. Fischer- Verlag, Frankfurt am Main 2018

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Das "Bldg 92" ist eines jener alten Gebäude im Industriegebiet von Brooklyn, die in den vergangenen Jahren in schicke Gehäuse für Start-ups, Luxuswohnungen und Cafés mit Quinoa-Salat und Karottensaft verwandelt worden sind. Jennifer Egan sitzt hier – ohne Salat und Saft – und sieht in dieser Umgebung etwas anderes. Nämlich den wichtigsten Hafen der Welt. Das war der Brooklyn Navy Yard noch vor sechzig Jahren. Er bildet auch den Schauplatz ihres neuen Romans. Während des Zweiten Weltkriegs wurden in den heute stillgelegten Werften dieses 225 Hektar umfassenden Geländes die meisten Schiffe der Alliierten hergestellt und repariert.

Die US-Schriftstellerin Jennifer Egan am Brooklyn Navy Yard, Schauplatz ihres historischen Romans "Manhattan Beach".
Foto: Pieter M. Van Hattem

Manhattan Beach handelt von der jungen Anna, die zur ersten weiblichen Taucherin des Hafens werden will. Auf ihrem Weg dahin gerät sie an einen Gangster, der vielleicht etwas über das Verschwinden ihres Vaters weiß; sie lernt Vorurteile und die Unterschiede zwischen Micks (Iren), Itakern (Italienern) und Itzigs (Juden) kennen. Manhattan Beach ist ein ungewöhnlich epischer Roman für eine Avantgardistin wie Jennifer Egan – die mit dem Buch über 15 Jahre gerungen hat.

Egan: Dieses Buch war ein Monster.

STANDARD: Warum das?

Egan: Der Stoff war zu weit weg. Ich schreibe nie über mich selber oder über Menschen, die ich kenne. Aber meine Bücher handeln immer von Zeiten und Orten, mit denen ich vertraut bin, sei es die Punk-Rock-Szene der 1970ern in San Francisco wie in Der größere Teil der Welt oder die Modeindustrie im New York der 1990er wie in Look at me. Das Lebensgefühl in New York kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs war mir völlig fremd. Ich hatte keine Ahnung, wie der Alltag der Arbeiter und Kleinbürger damals aussah, vom Funktionieren der Industrie und der Gewerkschaften ganz zu schweigen.

STANDARD: Sie haben gesagt, "Manhattan Beach" gehe auf 9/11 und den Belagerungszustand zurück, in dem sich die Stadt danach befand. Reichte dieses Gefühl der Bedrohung nicht, um Sie ins New York der 1930er und 1940er zurückzuversetzen?

Egan: Es war der Ausgangspunkt. Aber woher sollte ich wissen, wie die Menschen damals miteinander umgingen und sprachen? Was bereitete ihnen Freude, und wie roch ein teures Fliedershampoo? Als Schriftstellerin muss ich eine Welt nicht nur erfassen, sondern ganz neu erschaffen. Dafür las ich Zeitungsartikel, Handbücher über den Schiffbau und über den Mob. Ich sprach mit Zeitzeugen und stieg sogar in einen der bleischweren Tauchanzüge, die meine Protagonistin trägt. Aber obwohl ich mit der Disziplin einer Journalistin vorging, die sich in ein völlig neues Thema einarbeitet, brauchte ich unendlich lange, um ein Gespür für diese Zeit zu entwickeln.

STANDARD: Sie sind ja tatsächlich immer wieder journalistisch tätig.

Egan: Ohne diesen Hintergrund wäre ich mit dem Roman nie irgendwohin gekommen. Dennoch war ich überrascht darüber, dass sich ausgerechnet die Literatur als wertvollste Informationsquelle erwies. Romane und Erzählungen sagen mehr über eine Epoche aus als alle Geschichtsbücher zusammen. Und zwar interessanterweise sowohl gute wie schlechte Literatur. Henry Roths autobiografisches Meisterwerk Nenn es Schlaf half mir ebenso wie Mickey Spillanes Pulp-Romane. Diese Entdeckung bestärkte mich im Glauben, eben doch die richtige Berufswahl getroffen zu haben. Unsere Arbeit als Schriftsteller ist wichtig. Literatur hilft uns, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verstehen. Die Vorstellung, es handle sich dabei um einen Luxus, ist verrückt.

STANDARD: Inwieweit hat Ihr Eintauchen in die Welt von gestern Ihre Sicht aufs Heute verändert?

Egan: Ich habe gemerkt, dass vieles, das ich für vergangen hielt, keineswegs vergangen ist. Zum Beispiel die Gewalt in den Vereinigten Staaten. Mich interessiert seit jeher, was es heißt, Amerikaner zu sein. Bisher habe ich mich meistens mit Figuren befasst, die sich neu erfinden. Während der Arbeit an Manhattan Beach ging mir allerdings auf, dass im Kern der amerikanischen Kultur weniger die Verheißung der persönlichen Neuerfindungen steckt als die Gewalt. Das fing mit dem Abschlachten der Ureinwohner an und reicht bis zu den unzähligen Kriegen, in die dieses Land verwickelt ist. Während der Präsidentschaft von Barack Obama schien die Gewalt in den Hintergrund zu treten, weil dieser Mann so offensichtlich um Diplomatie bemüht war. Umso erschreckender ist der Gegensatz zu Donald Trump. Trump verkörpert eine Welt, in der mit Drohungen operiert wird und alles mittelbar oder unmittelbar auf physische Gewalt hinausläuft. Mit ihm erleben wir die Wiederkehr einer Gesinnung, die wir überwunden zu haben glaubten.

STANDARD: Wie steht es mit #MeToo? In "Manhattan Beach" ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ... gespannt.

Egan: Das war meine zweite Erkenntnis. Ich schreibe in dem Roman über Frauen, denen es anfangs verboten war, die Kriegsschiffe im Hafen zu betreten, weil man befürchtete, die Männer würden sich in ihrer Anwesenheit nicht beherrschen können. Auf mich wirkte das lächerlich. Ich dachte: Wie gut, dass diese Zeiten vorbei sind. Da stellt sich heraus: Nichts ist vorbei! Frauen sind an ihrem Arbeitsplatz täglich den Übergriffen von Männern ausgesetzt. Mir war das absolut nicht bewusst. Ich habe schon lange nicht mehr in einem Büro oder für einen Mann gearbeitet. Und als junge Frau sind mir derartige Erfahrungen zum Glück erspart geblieben. Wieder erwies sich also etwas, das ich für tiefste Vergangenheit gehalten hatte, als beängstigend gegenwärtig.

STANDARD: Verglichen mit Ihren früheren Werken wirkt "Manhattan Beach" fast konventionell. Es gibt einen allwissenden Erzähler, eine Chronologie und sauber gespannte Handlungsfäden. Wie war es, zur Abwechslung ganz altmodisch zu schreiben?

Egan: Ich hatte durchaus vor, mit Zeit- und Textebenen zu spielen, denn es schien mir absurd, einfach zu sagen: Okay, wir befinden uns jetzt in der Vergangenheit, und ich bin die Einzige, die hier den Überblick hat. Leider bin ich mit all meinen innovativen Versuchen elend gescheitert. Das Schreiben machte keinen Spaß, und was ich schrieb, fanden meine Erstlesenden entsetzlich. Das änderte sich erst, als ich mir erlaubte, einfach geradeaus zu erzählen. Plötzlich konnte ich mich ganz ohne ironische Brechung dramatischen Szenen widmen – einer Schießerei, einem Schiffsuntergang! Ich hätte nie gedacht, dass ich je einen Schiffsuntergang beschreiben würde. Das war eine befreiende Erfahrung. Mir eröffnete sich ein ganzes Universum, in das ich mich zurückziehen konnte, was ich eine Zeitlang bitter nötig hatte ...

STANDARD: Ihr Bruder beging während Ihrer Arbeit an "Manhattan Beach" Selbstmord.

Egan: Dieser Roman wurde zu meinem Zufluchtsort. Doch wäre mein Bruder gestorben, bevor sich mein Schreibknoten löste, hätte ich vermutlich das Handtuch geworfen. Was nicht heißt, dass die Arbeit von da an ein Kinderspiel war. Beim konventionellen Erzählen muss man einen Spannungsbogen aufrechterhalten. Das ist schwieriger, als man denkt.

STANDARD: Ein solcher Bogen war in einer Science-Fiction-Novelle aus Tweets – wie bei "Black Box" – wohl nicht nötig.

Egan: Nein, auch in den meisten anderen meiner anderen bisherigen Arbeiten nicht. Textexperimente, Ironie und vor allem die Fragmentierung sind die Erzählmodi unserer Zeit. Alle schreiben heute in Bruchstücken. Und weil wir so viel Zeit vor dem Häppchenbuffet unserer Bildschirme verbringen, sind wir daran gewöhnt. Ich bin diese Splittertechnik ein bisschen leid. Manhattan Beach ist mein erster Roman, der vor der Erfindung des Fernsehens spielt. Im Rückblick leuchtet es ein, dass ich dafür eine andere Form finden musste. Natürlich beginnt die literarische Moderne lange vor dem Fernsehen. Sie fällt mit dem Aufkommen des Kinos zusammen, was sicher kein Zufall ist. Der Versuch, herkömmliche Erzählstrukturen aufzubrechen, war eine Reaktion auf die neuen Medien von damals. Denken Sie an James Joyce: Er hat das erste Kino Irlands gegründet! Und verstehen Sie mich nicht falsch – mich fasziniert unser mediales Umfeld nach wie vor.

STANDARD: Sie haben einmal von sich gesagt, Sie seien von der Technologie besessen.

Egan: Von der Technologie und davon, wie sie sich auf unser Leben auswirkt. Diese Entwicklungen in meinem Schreiben zu reflektieren scheint mir natürlich. Im Augenblick arbeite ich sogar an einer Art Fortsetzung von Black Box. Allerdings hat mir Manhattan Beach Lust darauf gemacht, einen weiteren historischen Roman zu schreiben. Und einen Krimi – die Gangstergeschichten haben es mir angetan. Bei so vielen Projekten wage ich zu hoffen, dass sich wenigstens eines davon leichter anlässt als dieser letzte Roman. (Sacha Verna, 15.9.2018)