Geht bei Asyl nur alle oder keiner? Demonstration gegen den Regierungskurs auf der Reichsbrücke.

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Es gab eine beispiellose Vergiftung der Gesellschaft und einen Vertrauensverlust gegenüber den Eliten und den im Bundestag vertretenen Parteien. Es gibt das Erstarken einer rechtspopulistischen Bewegung. Ganz nebenbei ist im Diskurs über die Flüchtlingsfrage auch die Fähigkeit zur Differenzierung verkümmert." Die selbstkritische Bilanz, die "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im September 2016 über die Folgen der medialen Diskussion der Flüchtlingskrise gezogen hat, hat auch zwei Jahre später noch eine beunruhigende Aktualität. Die Polarisierung der Gesellschaft hat weiter zugenommen. In Österreich und Italien sind rechtspopulistische Parteien in Regierungsverantwortung gekommen, in Deutschland profitierte die AfD, Schweden verzeichnet Zugewinne der Schwedendemokraten. Die Aufmärsche in Sachsen signalisieren, wenn auch lokal begrenzt, einen öffentlichen Kontrollverlust.

Doch noch immer wird der Themenkomplex Asyl/Migration chaotisch, planlos und wenig differenziert diskutiert; das jüngste Beispiel lieferte die Debatte über negativ beschiedene Asylwerber in Lehrausbildung. Die politischen Akteure waren offenkundig nicht in der Lage, eine argumentative Balance zwischen der faktisch unbefriedigenden Situation langer, beruflich ungenutzter Verfahrensdauern und den Anforderungen einer möglichst trennscharfen Scheidung von Asylberechtigten und Migranten ohne Fluchtgründe zu finden.

Weder wurde von Regierungsseite eine Reform des Systems vorgestellt, die die Verfahren – etwa nach holländischem Vorbild – verkürzt und auf das Problem der hohen Rate fehlerhafter Erstentscheidungen reagiert, noch ließen die Wortmeldungen der Opposition Sensibilität dafür erkennen, dass die angestrebte Praxis das Asylsystem für eine ganze Alterskohorte auszuhebeln droht.

Entweder-oder-Verfahren

Die Lehrlingsdebatte ist beispielhaft für eine Art der politischen Auseinandersetzung, die in typisch österreichischer Lagermentalität nicht primär an den verschiedenen Facetten eines Problems orientiert ist, sondern an politischen Ausdeutungen, die in einer Art intellektueller Blockabfertigung im Entweder-oder-Verfahren angeboten werden: entweder alle oder keiner.

Dabei ist die Ausschließlichkeit der beiden Modelle in keiner Weise zwingend. Die im deutschen Koalitionsvertrag bundesweit festgelegten Ankerzentren werden Integration während des Verfahrens nur mehr bei guter Bleibechance ermöglichen. Asylwerber mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit sollen dann rasch kommunal verteilt werden, Asylwerber mit schlechteren Karten müssen das Verfahren in der Aufnahmeeinrichtung abwarten. Die Schweiz behandelt solche Asylwerber prioritär; auch im Bewusstsein, dass integrative Maßnahmen nur bei jenen Sinn haben, die mit einer echten Bleibeperspektive rechnen können.

Die Unterschiede sind enorm: Syrer etwa haben in Österreich aktuell eine Asylchance von 90 Prozent, bei Nigerianern sind es 1,5. Doch die unterschiedlichen Asylchancen – sie waren das wesentliche Kriterium für die Teilnahme am europäischen Verteilungsplan von 2015 – spielen in keinem der beiden österreichischen Modelle eine Rolle.

Hätte man rechtzeitig die Asyl- und Migrationspolitik der Länder der Neuen Welt analysiert, dann wäre auch klar geworden, dass sich dieser Bereich dann im gesellschaftlichen Konsens gestalten lässt, wenn das Werben für humanitäres Engagement mit einer ehrlichen Diskussion der Kostenseite gekoppelt wird und wenn ein allgemeines Migrationsmodell vorliegt, das humanitäre und ökonomische Migration aufeinander bezieht und in diesem Rahmen auch die Finanzierung sichert. Natürlich ist Europa mit geopolitisch weniger planbaren Bedingungen konfrontiert – aber gerade deshalb muss die Debatte vorausschauend, empirisch, vor allem realistisch geführt werden.

Beispiel Kanada

Ein solcher Realismus liegt nicht vor, wenn implizit mit einem europäischen Wähler gerechnet wird, der in diesen Dingen humanitärer, großzügiger und liberaler gesinnt ist als sein kanadisches oder neuseeländisches Pendant – der wohl größte Fehler der politischen Diskussion neben ihrer vorschnellen Delegierung an einen billigen Rechts-links-Schematismus. Kanada war nach lediglich einem Jahr relativer Großzügigkeit mit über 40.000 Resettlementplätzen 2016 bereits im darauffolgenden Jahr zum Status quo ante zurückgekehrt (7500 Plätze in staatlicher Grundversorgung). Auch 2016 sprachen sich 70 Prozent der kanadischen Wähler gegen eine Aufnahme von mehr als 25.000 Personen aus; die Differenz wurde privat finanziert.

Die Erfahrungen mit dem System geteilter Finanzierung, das Kanada beibehalten wird, sind positiv, die private Komponente erleichtert die Integration. Eine analoge Debatte in Österreich, die engagierte Privatpersonen, auch die Kirchen, einbindet, fehlt.

In Neuseeland – dem einzigen Land der Neuen Welt, das nach europäischem Verhältniswahlrecht wählt – wird die Debatte seit Jahren pragmatisch geführt; auch die neuseeländischen Grünen scheren nicht aus. Sie fordern eine behutsame Anhebung des staatlichen Resettlementvolumens auf 5000 Plätze jährlich innerhalb von sechs Jahren, schätzen Kosten (350 Millionen NZ$ für 4000 Plätze) und machen Finanzierungsvorschläge (Gewinne in der Migrationskategorie "Investor Plus").

Die durchwegs pragmatische Haltung der neuseeländischen Diskussion spiegelt sich in Wahlergebnissen wider. Während die 1993 gegründete rechtspopulistische Partei New Zealand First ihr historisch bestes Ergebnis von 13,4 Prozent bereits 1996 einfuhr und aktuell unter dem Ergebnis des ersten Wahlantritts liegt, konnten die Schwedendemokraten ihr Ergebnis von verschwindenden 0,4 1998 kontinuierlich auf 17,6 Prozent 2018 steigern.

Die aktuelle europäische Situation ist auch das Ergebnis einer Debatte, die von Anfang an zu hitzig, zu unsachlich und zu lagerversessen geführt wurde – und in der bis heute die Akteure fehlen, die hier auf parteilicher, medialer, intellektueller Ebene gegensteuern könnten. (Christoph Landerer, 17.9.2018)