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Tayyip Erdogan regiert die Türkei. Allerdings gibt es auch eine lebhafte türkische Linke, die in Europa oft übersehen wird.

Foto: Reuters / Umit Bektas

Ankara – Wären Monatsschriften und Magazine ein Gradmesser für den politischen Mainstream, dann wäre die Türkei nicht konservativ und fromm, sondern stünde weit links bei Marx, Gramsci und Noam Chomsky. Während die intellektuelle Debatte in den regierenden national-islamistischen Kreisen weiterhin sparsam ist, pflegt die türkische Linke eine überbordende Diskussionskultur. Vor allem mobilisiert sie einen beträchtlichen Teil der Jugend und jungen Erwachsenen im Land, was in Europa leicht übersehen wird. Max Zirngast, der österreichische Student, Autor und Aktivist, schwamm in diesem Biotop von Kapitalismuskritikern, Frauenrechtlern und Umweltschützern, bis er vor einer Woche in seiner Wohnung in Ankara festgenommen wurde.

Die Staatsanwaltschaft in der türkischen Hauptstadt hatte von einem Richter weitere vier Tage Zeit erhalten, um Anschuldigungen gegen den Österreicher zu formulieren und gegen zwei mit ihm festgenommene türkische Staatsbürger. Der eine ist Mithatcan Türetken, ein Mitglied der marxistischen Gruppierung TÖPG (Aktionspartei für soziale Freiheit), der bereits im vergangenen Jahr knapp zwei Monate in Untersuchungshaft saß; die andere ist Hatice Göz, die bei den Kampüs Cadilari ("Campus-Hexen") engagiert ist, einer linken, feministischen Bildungsinitiative. Die Frist für eine Richterentscheidung über die Freilassung oder die Überstellung in die Haft läuft Mittwochfrüh aus, kann aber im Rahmen der türkischen Antiterrorgesetzgebung noch einmal um vier Tage verlängert werden.

Mithilfe im Wahlkampf

Zirngast engagierte sich eigenen früheren Aussagen zufolge im Umfeld des HDK (des Demokratischen Volkskongresses), eines Bündnisses linker Gruppen, dem auch die TÖPG angehört und aus dem die prokurdische Parlamentspartei HDP hervorging. Der 29-jährige Steirer soll auch im Wahlkampf der HDP mitgeholfen haben; diese zog nach den Wahlen im vergangenen Juni als drittgrößte Kraft wieder ins Parlament ein.

Historisch gesehen ist die Partei der Demokratischen Völker (HDP) ein seltener Erfolg der sonst so zersplitterten Linken in der Türkei. Dreimal in Folge gelang ihr nun bei Parlamentswahlen der Sprung über die hohe Zehn-Prozent-Hürde (Juni und November 2015, Juni 2018). Zu ihren Abgeordneten gehören der Investigativjournalist Ahmet Sik, der Mitbegründer der linksgerichteten Türkischen Arbeiterpartei (TIP) Erkan Bas oder Oya Ersoy, eine frühere Präsidentin der Halkevleri, der linken "Volkshäuser", einer Bürgerrechtsbewegung, die ursprünglich als Bildungsorganisation in den Anfangsjahren von Atatürks Republik entstanden war.

Die Türkische Kommunistische Partei (TKP) war bald nach Beginn der Republik verboten, ihr Gründer Mustafa Suphi 1921 noch im Unabhängigkeitskrieg ermordet worden. Von den 1960er-Jahren an hatte die Linke allerlei Facetten: revolutionäre Leninisten, Nationalisten, Enver-Hodscha-Anhänger, PKK-Guerilla. (Markus Bernath, 17.9.2018)