Mundgeruchsgeister. Der Atem der antiken, die Lebenden heimsuchenden Lemuren war in Franz Wests Vorstellung schauerlich. Und so waren 1992 die Besucher der Documenta eingeladen, in den Schlund seiner Lemurenköpfe (1992), mitten hinein in die entstellten bösen Gespensterfratzen, Müll zu stecken.

Die "Lemurenköpfe", 1992 im Atelier von Franz West aufgenommen – heute in der Sammlung Pinault.
Foto: H. Schönfellinger

Ob Wests Skulpturen damals von den Besuchern auch wirklich olfaktorisch vollendet wurden, ist nicht überliefert: Im Centre Georges-Pompidou herrscht jetzt auf alle Fälle Wohlgeruch statt Raubtieratem; die gemeinsam mit Bernhard Riff entstandenen Videos tränken die großzügigen Hallen mit erhebenden klassischen Klängen. Ein Hochgefühl macht sich breit. Und so schenkt man den blassen, übelgelaunten Pappmaché-Gespenstern, deren Geschwister auf den Brückenköpfen am Wiener Stubentor sitzen, gönnerhaft ein breites Grinsen.

Franz West machte es vor: Seine Kunst darf benützt werden! Leider ist das oft nicht mehr erlaubt.
Foto: Detail eines Plakatentwurfs 2000, Franz West Privatstiftung Wien

Franz Wests Werke zum Fläzen und Knotzen, seine Körper-Anlege-Arbeiten zum Sichtbarmachen von Neurosen, ausgestellt über den Dächern von Paris? Das ist schon für sich genommen eine die Stimmung boostende Tatsache. Schließlich ist der 2012 verstorbene Bildhauer der erste österreichische Gegenwartskünstler, der hier präsentiert wird. Die Retrospektive, die 2019 in Londons Tate Modern Station macht, will die bisher größte sein (zählt man da Werke ab?). Auf alle Fälle betoniert sie den 2012 verstorbenen Bildhauer noch ein bisschen fester in die Kunstgeschichtsschreibung ein.

Im Grunde haben die Franzosen sich mit diesem Schritt lange Zeit gelassen. Das New Yorker Museum of Modern Art – für viele der Karrieregipfel schlechthin – hatte West bereits 1997 ein Solo, wenn auch nur ein kleines, gewidmet. Seit den Documenta-Teilnahmen 1992 und 1997 und der Venedig-Biennale im selben Jahr war Franz West im globalen Kunstbetrieb präsent: Renaissance Society Chicago, Deichtorhallen Hamburg, Whitechapel Gallery London, LACMA Los Angeles oder die Fondation Beyeler Basel sind einige der Meilensteine, dazu die potentesten Galerien wie Larry Gagosian oder David Zwirner, im deutschsprachigen Ausland Eva Presenhuber und Bärbel Grässlin.

Foto: Anne Katrin Feßler

Der Markt, die Streithälse

Allerdings hat der seit dem Tod des Künstlers laufende Rechtsstreit die Geschäfte gelähmt. Unklar ist, wer jetzt tatsächlich die Rechte am Werk besitzt – das Archiv, die Erben oder die Stiftung, die aus dem seit eh und je ans Atelier gekoppelten Büro Franz West hervorgegangen ist. West selbst, das entsprach seinem Wesen, hat in diesen Dingen, ebenso wie in der Kunst, die Dinge nicht genau festgelegt. Wie es ausschaut, wird der Konflikt wohl noch länger die Gerichte bemühen. Mit der Pariser Schau ist West zurück am Markt, das ist auch den Streithälsen klar und könnte ihre momentane produktiv-kooperierende Waffenruhe erklären.

Diese traurigen Talfahrten im Nachlassgeschäft sind der Ausstellung zum Glück nicht anzumerken. Vielmehr ist es ein beschwingter, kompakter und darin doch stimmiger Ausflug in West-Welten geworden, zu dem man Kuratorin Christine Macel beglückwünschen muss. Das Gesicht in den Kissen seines Bettes verborgen – so stellt sie den 1947 Geborenen erst einmal als sympathische Type mit dem Lebensmotto "Nichts zu tun und trotzdem davon leben können" vor.

Friedl Kubelka nahm dieses kurze Filmporträt von Franz West 1969 (damals noch Franz Zokan, nach dem Familiennamen seines Vaters) auf: "Graf Zokan".
Foto: Sixpackfilm

Aufgenommen hat das Bild Weggefährtin Friedl Kubelka, die dem sparsamen Lächler in zwei Filmporträts zumindest einige Mundwinkelkräusel abringt. Über dieser Urliege daheim in der mütterlichen Wohnung im Karl-Marx-Hof, Vorläufer aller geschweißter Diwans und Liegestätten, sieht man fein säuberlich zum Mosaik arrangierte und mit Nägelchen fixierte Zeichnungen. Skurrile Männer mit Brille und Melone performen hier, surreal wie Figuren in einem Jaques-Tati-Film, in urban-ornamentalen Kulissen.

Und flugs hat Macel so wesentliche Motive des West'schen Kosmos wie das produktive Nichtstun, das performative Moment und den Humor eingeführt. So vorbereitet, lassen sich die Besucher rasch zum Hantieren mit seinen verknautschten Accessoires und amorphen Körperprothesen aus Pappmaché und Gips – freilich nur Kopien der fragilen Original-Passtücke – verführen. Verrenkungen, zu denen heutzutage auch noch ein Smartphone für das Selfie balanciert werden will.

"Passstücke" und "Labstücke" (gelb und grün). Letztere stellte Franz West aus leeren Alkoholflaschen her. Deren Wert bemaß Franz West nach ihrem Inhalt. Nach dem Leeren, sprich Austrinken, war West selbst Träger deren Werts. Die ursprüngliche Hülse des Wertes führte er dann in Kunst über.
Foto: Philippe Migeat - Centre Pompidou

Gipsgrau bis knetgummibunt

Kunst als etwas, das man berührend erfährt, zu dem man körperlich – etwa Samba tanzend – in Beziehung tritt, das wenig elitär und womöglich sogar funktional ist. Es ist diese Essenz des West-Werks, mit der man ihn in Paris als Schlüsselfigur der Kunst seit 1968 verankert. Demokratisierend wirken die aufs Bücherregal statt auf Sockel platzierten, mal gipsgrauen, mal knetgummibunten Artefakte. Entkrampfend die sich kringelnden Wuste und verdauten Würste, die zuckerlrosa Arschlöcher, auf denen man buchstäblich zum Sitzen kommt.

vorne: ein Anus aus der Serie "Cool Book" (2007), die in unterschiedlichen Rosa-Tönen lackiert wurden. Der Titel war ein phonetisches Spiel mit dem italienischen "buco die culo" – zu deutsch: Arschloch.
Foto: Anne Katrin Feßler

Die Perfektion verneinen scheinbar beiläufig zusammengeschweißte Sitzmöbel, in denen sich einzunässen auch kein Malheur wäre. Seine Kollaborationen – etwa mit Herbert Brandl und Heimo Zobernig – zertrümmern Geniebegriff und spießige Alleinautorschaft. Falschen Respekt hat West sowieso das Klo runtergespült. In all dem – auch beim Verknoten von Kunst und Leben – war er konsequent. Zusammen mit seinem freien Geist ergab das einen unangepassten Charaktercocktail.

Herbert Brandl bemalte Objekte von Franz West, Heimo Zobernig baute Sockel. Besonders charmant ist der Rollentausch der Objekte.
Foto: Anne Katrin Feßler

Dass 24 seiner teppichüberworfenen Sofas nun im Pompidou eine Performance-Arena bilden, hätte dem Künstler ebenso gefallen wie die dort untertags – Wests Ideal der Muße folgend – Schlummernden. Die Stimmung verhagelt hätte ihm schon eher der Blick in den öffentlichen Raum.

1992 formten sie in Kassel auf der Documenta ein "Auditorium", jetzt bilden sie im Pompidou Ruheinsel und Performance-Arena zugleich: Franz Wests Sofas aus Eisen und übergeworfenen Teppichen.
Foto: Philippe Migeat - Centre Pompidou

Anders als im Park von Ambras, auf dem Zürichsee oder an der Rotterdamer Gracht, wo man auf und an seinen Arbeiten herumlümmelt, wirken seine monumentalen Kringel draußen im Pariser Marais plötzlich museal. Im Hof der historischen Bibliothek oder des Musée Cognaq-Jay raunen sie vielmehr: "Rühr mich nicht an!" Im Garten des Musée Picasso liegt eine monumentale Kugel auf der Wiese, auf dieser ein Schild: Rasen betreten verboten! (Anne Katrin Feßler, 18.9.2018)

"Omega" (2008) und "Meeting Point II" (2010) im Hof der historischen Bibliothek in Paris (24 rue Pavée).
Foto: Anne Katrin Feßler
Wenn man das Labyrinth aus Treppen und Gängen im Musée Picasso überwunden hat (Eintritt zum Garten mit gültigem Pompidou-Ticket), findet man auf dem Rasen (Betreten verboten!) des Museumsgartens Franz Wests "Kugel" (2006).
Foto: Anne Katrin Feßler