Walter Mischel, hier bei einem Interview mit dem STANDARD im Oktober 2012, verstarb am vergangenen Mittwoch in New York City.

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New York / Wien – Persönlichkeitstheorien würden dort aufhören, wo sie eigentlich anfangen sollten: Das war Walter Mischels Meinung, und zeit seines erwachsenen Lebens als Psychologe arbeitete er daran, das zu korrigieren. Ein umfassendes Bild von der Persönlichkeit eines Menschen müsse die Einflüsse von momentanen sozialen und Umweltfaktoren berücksichtigen. "Das Verhalten einer Person ändert ihre Lebenssituation und wird von der Situation verändert", sagte er.

Berühmt wurde Walter Mischel mit den "Marshmallow-Tests": Kleine Kinder hatten die Wahl, die Süßigkeit entweder gleich zu essen oder kurz zu warten und dann eine zweite zusätzlich zu bekommen. Es ging um Impulskontrolle, um die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub. Die Hypothese war, dass Kinder, die sich beherrschten, später besser in der Schule, selbstbewusster und ausgeglichener sein würden. Diese Annahme wurde teils bestätigt, dann wieder in Zweifel gezogen und ist bis heute nicht restlos im psychologischen Wissensbestand verankert.

Mister Marshmallow

Mischel selber hat den nur vorläufigen Charakter seiner Versuchsanordnung betont – geringe Anzahl an Kindern, keine Kontrolle der sozialen Herkunft und deren Einfluss auf spätere Leistungen. Und obwohl er nun in der Forschergemeinde als Mister Marshmallow galt, waren die Tests für ihn nur ein Baustein einer umfassenden psychologischen Theorie.

Die Idee zu ihr keimte bei der Lektüre von Freud. Ihn las er zunächst hauptsächlich, weil er, wie der Psychoanalytiker, aus Wien stammte. Walter Mischel wurde 1930 geboren und wuchs in Wien auf, "in der Böcklinstraße 122", wie er noch Jahrzehnte später wusste, und die Familie lebte dort, "wie wir glaubten, als ganz normale Österreicher".

Flucht in die USA

Das änderte sich nach dem "Anschluss", als die Mischels, assimilierte Juden, das Land verlassen mussten. Sie hatten Glück: Ein Vorfahre war amerikanischer Staatsbürger gewesen, das erleichterte die Einreise in die USA.

In Brooklyn schlugen sich die Mischels mehr schlecht als recht durch. Walter studierte Psychologie an der New York University. "Ich wollte klinischer Psychologe werden und war sehr von Freud beeindruckt", sagte er im Rückblick. "Aber ich konnte seine Theorie nicht anwenden und fand sie auch empirisch wenig untermauert. Nun wollte ich sehen, wie weit man stattdessen mit der behavioristischen Orientierung gehen konnte, und dann hoffte ich auf eine größere Theorie, die alles einschließen würde."

Von Harvard nach Stanford

Diese Hoffnung sollte sich an der Harvard University nicht erfüllen, wo er ab 1962 Professor war und wo der Dozent Timothy Leary mit seinen LSD-Experimenten wachsende Unruhe ins Institut brachte. An der Stanford-Universität hingegen, die ihn 15 Jahre später abwarb, fand Mischel ideale Arbeitsbedingungen vor. Zwar war es auch dort alles andere als ruhig – Kollegen von ihm etwa hatten das berüchtigt gewordene Prison-Experiment veranstaltet und ihre Studenten als Gefängniswärter schalten und walten lassen -, doch er konnte unbehelligt an längerfristigen Studien arbeiten, eben an den Marshmallow-Tests.

Er verfeinerte die Testbedingungen, arbeitete nicht mehr nur mit Süßigkeiten und stellte fest, dass die Versuchspersonen – später auch Erwachsene – sich anders verhielten, je nachdem, wie sie sich die Aufgaben vergegenwärtigten. Mithilfe solcher Ergebnisse kritisierte er herkömmliche Persönlichkeitstheorien, die konsistente, relativ unveränderbare Dispositionen – im Fachjargon "traits" genannt – postulierten. Stattdessen betonte er die Bedeutung von situationsspezifischen Faktoren: "Zum Beispiel reagiert jemand in einer bestimmten Situation aggressiver, in einer anderen jedoch auffallend weniger aggressiv."

Neue Persönlichkeitstheorie

Zwischen der Psychoanalyse und dem Behaviorismus entwickelte Mischel eine eigene Theorie der Persönlichkeit, einen sozial-kognitiven Ansatz, der individuelle Unterschiede erklären soll. Als er in den Neunzigerjahren begann, mit Neurowissenschaftern zusammenzuarbeiten, kam er zu der überraschenden Einsicht, dass sich die Fähigkeit etwa zur Selbstkontrolle epigenetisch niederschlagen könnte.

Es gebe die Interaktion zwischen dem, was in den Menschen sei, also dem Genom, und dem, was ausgedrückt wird, also was von der Zellumgebung bestimmt wird. "Ich bin kein Molekularbiologe", sagte er, "doch ich sehe eine Analogie insofern, als die soziale Erfahrung sich ebenfalls in neuronalen Prozessen niederschlägt."

Gegenteil eines Fachidioten

Walter Mischel, der ab 1983 an der Columbia-Universität lehrte und auch nach der Emeritierung weiterforschte, war das personifizierte Gegenteil eines Fachidioten. Er streckte seine Fühler nicht nur in benachbarte Wissenschaftsgebiete aus, er interessierte sich für Politik, für Musik und für Kunst – er malte. Einmal sagte er halb im Scherz, dass er gerne im Museum of Modern Art ausstellen würde, aber: "Sie haben sich noch nicht bei mir gemeldet ..."

Zu Wien hatte er lange Zeit aus verständlichen Gründen kein gutes Verhältnis. Noch in den Neunzigerjahren stellte er fest, dass er zwar aus verschiedenen europäischen Ländern Einladungen zu wissenschaftlichen Vorträgen erhalten hatte, aber nicht aus Österreich. Das änderte sich erst 2012, als in Wien ein Symposium zu seinen Ehren veranstaltet wurde, das unter dem Titel "Self Control and the Life Course" stand. Zudem erhielt er damals den Wittgenstein-Preis der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Preis des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF).

Es traf sich damals gut, dass auch sein Freund und Kollege an der Columbia-Uni, der Neurowissenschafter Eric Kandel, ebenfalls ein aus Wien Vertriebener, in seiner Heimatstadt war und sie nach der Preisverleihung gemeinsam mit ihren Partnerinnen im Sacher feiern konnten. "Wo ich aufhöre, fängt mein Freund Eric an", sagte Mischel über das Verhältnis ihrer beiden Arbeiten.

Vergangene Woche starb Walter Mischel 88-jährig in New York an den Folgen einer Krebser- krankung. (Michael Freund, 18.9.2018)