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Der Physiker Carlo Rovelli erforscht seit Jahren, was die Zeit eigentlich ist. Darum geht es in zwei seiner Bücher, die nun erschienen sind.

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Carlo Rovelli, "Die Ordnung der Zeit". Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. € 20,60 / 190 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018

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Carlo Rovelli, "Und wenn es die Zeit nicht gäbe?". Aus dem Französischen von Monika Niehaus. € 12,40 / 208 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018

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Als junger Mensch hat sich Carlo Rovelli das Ziel gesetzt, stets seinen Träumen zu folgen. Macht und Reichtum interessierten ihn nicht. Er wollte die Welt zu einer besseren machen. Dabei stieß er schnell auf Widerstände, als Student wurde er etwa im Polizeikommissariat in Verona verprügelt – ein Buch, das er mit Freunden über die Studentenrevolte geschrieben hatte, missfiel der Polizei. Rovelli, 1956 geboren, ließ sich aber nicht von seinem Weg abbringen, utopischen Träumen zu folgen, anstatt den Status quo zu konservieren.

Was bedeutet es, dass die Zeit auf fundamentaler physikalischer Ebene nicht existiert? Mit dieser Frage beschäftigt sich Carlo Rovelli.
Penguin Books UK

Immer mehr fesselten ihn die Umwälzungen in seinem Studienfach, der Physik: "So bin ich aus einer missglückten Kulturrevolution in eine gerade stattfindende Revolution des Denkens hineingeschlittert", schreibt er in "Und wenn es die Zeit nicht gäbe?". Der Text, der im Original vor über zehn Jahren erschienen ist, wurde nun auf Deutsch herausgegeben, zeitgleich mit seinem jüngsten Buch "Die Ordnung der Zeit".

Leidenschaft für große Fragen

In beiden Werken kommt die Leidenschaft des in Marseille tätigen Physikers für die ganz großen Fragen zum Ausdruck. Was ist Raum? Was ist Zeit? Wie ist das Universum entstanden? Wie wird es enden? Zusätzlich besitzt Rovelli die seltene Begabung, die Erkenntnisse seiner Forschung gut verständlich, ohne Mathematik äußerst mitreißend zu vermitteln.

Der publizistische Durchbruch gelang Rovelli 2015 mit "Sieben kurze Lektionen über Physik", das es in mehreren Sprachen in die Bestsellerlisten schaffte. Das visionäre Vorhaben, dem er seine Forscherkarriere verschrieben hat, ist, die beiden großen physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts zusammenzuführen: Quantenphysik und Relativitätstheorie.

Die Theorie, die Rovelli dafür mit Kollegen vorgeschlagen hat, nennt sich Schleifenquantengravitation (auf Englisch "loop quantum gravity"). Noch fehlen experimentelle Bestätigungen dafür. Doch auch die konkurrierenden Ansätze wie die String-Theorie konnten bisher nicht empirisch belegt werden.

In einem Vortrag an der Royal Institution of Great Britain legte Carlo Rovelli kürzlich seine Theorie der Zeit dar.
The Royal Institution

Universum ohne Zeit

Eine Folge der Schleifenquantengravitation ist, dass die Zeit als Variable in der Physik nicht mehr existiert. Doch was bedeutet das? Wie verändert sich dadurch unser Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Genau diese Fragen stehen im Zentrum von Rovellis Neuerscheinungen.

Da die Zeit-Variable fehlt, lässt sich gemäß der Schleifenquantengravitation nicht beschreiben, wie sich die Dinge in der Zeit entwickeln, sondern vielmehr, "wie sich die Dinge jeweils in Bezug zueinander verändern".

Wenn die Zeit auf grundlegender Ebene nicht existiert, was ist dann mit der Zeit, die wir wahrnehmen? Mit dieser Frage hat sich Rovelli schon in den späten 1990er-Jahren beschäftigt. Demnach hat das Empfinden von Zeit mit unserem Unwissen zu tun, mit der Ungenauigkeit, mit der wir die Welt wahrnehmen.

Ungenaue Wahrnehmung

Als anschauliches Beispiel dafür nennt Rovelli die Temperatur: Könnten wir atomare Bewegungen wahrnehmen, würden wir feststellen, dass sich Atome in warmem Wasser schneller bewegen als in kaltem. Aufgrund unserer ungenauen Wahrnehmung spüren wir aber bloß Wärme und keine Atombewegungen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Zeit. Rovelli schreibt dazu: "Der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft bezieht sich auf unsere unscharfe Sicht von der Welt."

Die Neuerscheinungen gehen ans Eingemachte der Physik, aber auch Philosophie und Poesie kommen dabei nicht zu kurz. Zudem spart Rovelli nicht mit biografischen Anekdoten, die den physikalischen Ausführungen eine persönliche Note verleihen.

Den Träumen folgen

Insgesamt strotzt der Text vor einer enormen Begeisterung für Wissenschaft, die der charismatische Physiker an die nächste Generation weitergeben will: "Wenn junge Leute mich fragen, so rate ich ihnen eindringlich davon ab, eine Karriere als Forscher anzustreben. Ich erzähle ihnen von der erbitterten Konkurrenz um Stellen ... Aber heimlich hoffe ich, dass sie die Leidenschaft und die Kraft aufbringen, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und ihren Träumen zu folgen." (Tanja Traxler, 21.9.2018)