Wien – Vor dem informellen EU-Gipfel in Salzburg präsentierte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ihre Forderungen an die teilnehmenden Staats- und Regierungschefs. Die Organisation fordert sie zu einem Umdenken auf. "Das Motto für die österreichische EU-Ratspräsidentschaft lautet 'Ein Europa, das schützt'. Was wir jetzt aber vor allem brauchen, ist ein Europa, das Menschenleben schützt", sagt Marcus Bachmann, humanitärer Berater für die Organisation in Österreich.

Wie mit dem Vorwurf der Schlepperei umgegangen wird

Wie begegnet die Organisation dem – auch im STANDARD-Forum häufig geäußerten – Vorwurf, dass Rettungsschiffe wie die momentan im Mittelmeer aktive Aquarius auf Flüchtlinge als Pull-Faktoren wirken, beziehungsweise der radikaleren Formulierung, dass Schiffe wie die Aquarius Schlepperei betreiben würden?

"Die insinuierten Kausalketten stimmen einfach nicht", antwortet Bachmann. Das zeige das letzte große Bootsunglück vor der libyschen Küste. Am 1. September geriet ein Boot nur wenige Stunden nach Abfahrt in Seenot, 100 Menschen ertranken. "Zu dieser Zeit war überhaupt kein Rettungsschiff im Mittelmeer unterwegs, und die Menschen sind trotzdem geflohen."

Weil die Organisation aber immer wieder mit diesen Vorwürfen konfrontiert ist – auch von Politikern -, wurde im Sommer letzten Jahres ein Video als Antwort zusammengestellt. Außerdem geht die Organisation in diesem Beitrag auf verschiedene Behauptungen ein.

Sind humanitäre Organisationen, die mit Schiffen im Mittelmeer unterwegs sind, Schlepper? In diesem Video geht die Organisation darauf ein.
Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF)

Die libysche Küstenwache habe nach dem Bootsunglück die Überlebenden eingesammelt und in den Hafen von Khoms gebracht. "Weil sie im dortigen Lager von Ärzten der Organisation untersucht wurden, ist diese Tragödie überhaupt bekannt geworden", sagt Bachmann. Die Fluchtroute über das Mittelmeer sei tödlicher als je zuvor.

Dass allein dieses Jahr 13.000 Männer, Frauen und Kinder aus dem Mittelmeer nach Libyen zurückgebracht wurden, wo sie Gewalt, Entführungen und Ausbeutung ausgesetzt seien und keine Möglichkeit des Entkommens hätten, sei unhaltbar. "Dazu tragen Österreich und andere EU-Staaten aktiv bei, indem sie die Seenotrettung de facto der libyschen Küstenwache überlassen mit dem Ziel, Flüchtende und Migranten am Mittelmeer abzufangen und in dieses Konfliktgebiet zurückzuführen", sagt Bachmann.

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Diese Frau aus Kamerun wurde im Juli aus dem Mittelmeer gerettet, nachdem sie sich eine Nacht lang an einem Wrackteil eines gesunkenen Bootes festgehalten hatte.
Foto: Reuters/JUAN MEDINA

Katastrophale Zustände auf Lesbos

Nicht nur in Libyen, auch im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos sei die Lage "katastrophal". In dem für 3.000 Menschen konzipierten Lager befinden sich derzeit 10.000 Menschen, etwa die Hälfte davon sind Kinder.

Ärzte ohne Grenzen kritisiert die Zustände im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos.
Foto: APA/AFP/ARIS MESSINIS

Das Camp ist ein sogenannter EU-Hotspot. Hier werden Flüchtlinge gesammelt, die in Griechenland ankommen. Sie dürfen die Insel nicht verlassen, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Nicht nur die Asylentscheidungen dauern lange, auch die vom EU-Türkei-Flüchtlingspakt vorgesehenen Rückführungen von Migranten in die Türkei kommen wegen großer Personalmängel nur mühsam voran. Der seit März 2016 geltende Pakt sieht vor, dass alle Flüchtlinge, die auf den Inseln der Ostägäis ankommen, von dort zurück in die Türkei gebracht werden müssen, wenn sie in Griechenland kein Asyl erhalten.

Die BBC war im August im Camp Moria unterwegs.
BBC News

Durch die enorme Überbelegungen kommt es einerseits zu schlechten hygienischen Bedingungen. Durchschnittlich teilen sich hier Bachmann zufolge 73 Menschen eine Latrine. Gleichzeitig kommt es aber auch verstärkt zu Ausschreitungen – Gewalt und Missbrauch seien an der Tagesordnung, sagt Bachmann.

Evakuierung auf griechisches Festland gefordert

Wiederholt haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos auf den psychosozialen Notstand im Lager hingewiesen. "Viele Menschen verletzen sich in ihrer Verzweiflung selbst, auch Suizidversuche sind an der Tagesordnung", sagt Bachmann. Dennoch hat sich die Situation stetig verschlechtert. Die Organisation fordert daher die Evakuierung der Menschen auf das griechische Festland.

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Gesundheitsinspektoren haben die Zustände im Camp als Gesundheitsgefährdend beschrieben. Behörden wurden aufgerufen binnen 30 Tagen Verbesserungen zu schaffen.
Foto: AP/Petros Tsakmakis

"Wenn die EU nicht willens ist oder es logistisch nicht schafft, einige tausend Schutzsuchende in Europa menschenwürdig zu versorgen, wie sollen dann die angekündigten Lager außerhalb Europas funktionieren?", fragt Bachmann.

Keine simplen Lösungen

Der Aussage von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), wonach die Aufstockung der EU-Grenzschutzagentur Frontex die einzig wahre Lösung für die Migrationskrise sei, kann Bachmann nicht viel abgewinnen. "Es ist eine Illusion zu glauben, dass es die einzige oder die endgültige Lösung gibt. Migration ist ein komplexes Phänomen. Einfache Lösungen zu verkaufen ist nicht ehrlich."

Bachmann beobachtet hingegen eine "völlige Loslösung von Rhetorik und konkreten Lösungen". Sichtbar werde das etwa am Beispiel Südsudan. Die Beiträge der EU für Flüchtlingslager in dieser Region seien so niedrig wie seit Jahren nicht. Gleichzeitig heiße es aber oft, man müsse Fluchtursachen vor Ort bekämpfen.

Resettlement geht nur schleppend voran

Ein anderes Beispiel fällt Bachmann auch noch ein: Das UNHCR habe 1.500 Menschen von Libyen in den Niger evakuiert, dann kam es zum Stopp. Der Grund: Zwar unterstützen mehrere europäische Staaten, Kanada und die USA die Forderung, Menschen aus den überfüllten und heruntergekommenen Lagern Libyens holen. Doch ließen sie sich zu viel Zeit, um die Schutzansuchen der Personen, die daraufhin im Niger verharrten, zu überprüfen. Die Folge: Die Geflohenen saßen im Niger fest, woran die dortige Regierung kein Interesse hat und deswegen auf die Bremse trat. Das Resettlement verläuft schleppend.

"Durch den verengten Fokus auf Grenzschutz und Sicherheitspolitik wird von ungelösten Problemen und Fehlern der europäischen Flüchtlingspolitik abgelenkt", sagt Bachmann. Auch die Idee von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ), Asylanträge bereits auf Schiffen abzuwickeln, hält Bachmann für ein Ablenkungsmanöver von den wirklichen Problemen. "Eines steht jedenfalls fest: Eine humanitäre Krise wurde noch nie gelöst, indem man sie gebeten hat, einfach unsichtbar zu werden." (Lara Hagen, 18.9.2018)