Die kleine Ursula: Sie erinnert sich in ihrem Buch an Hendln, Hasen, Hunde – und den toten Onkel F. zurück.

Foto: Amalthea-Verlag

Ursula Strauss an ihrem Geburtstag 1975.

Foto: Privatarchiv Ursula Strauss

Ursula Strauss am Meer.

Foto: Privatarchiv Ursula Strauss

Ursula Strauss, "Warum ich nicht mehr fliegen kann". Bilder und Geschichten, aufgezeichnet von Doris Priesching, € 25 / 256 Seiten. Amalthea, 2018

Foto: Amalthea

Ich hatte einen Hund, die Mara, und die Kunigunde, mein Hendl. Hendln hatten wir nämlich auch. Die Kunigunde war ein Superhuhn, die Kunigunde hatte es drauf. Ich mochte sie, weil sie ein sehr aufgewecktes, gleichzeitig aber auch sehr zutrauliches Huhn war und mir sogar aus der Hand fraß. Gegessen haben wir sie trotzdem, die Kunigunde, wenn ich mich richtig erinnere.

Grundsätzlich ging es unseren Hendln gut, wir aßen sie ja nicht alle auf einmal, sondern höchstens hin und wieder eines. Bis dahin hatten sie ihren eigenen Stall im Garten.

Die Kunigunde liebte diese Freiheit von allen Hendln am meisten. Allerdings hörte bei ihr die Freiheit nicht am Gartenzaun auf. So kam es oft dazu, dass der ganze Siedlungskindertrupp ausschwärmte, um die gute Kunigunde zu suchen und wieder heimzuholen. Wir mochten unsere Hendln, und umso schlimmer war es, als irgendwann der Marder kam, der eine ganze Hendlgeneration auf einmal ausrottete. Das war eine Tragödie. Ein sehr trauriger Tag. Irgendwann hatten wir dann keine Hendln mehr, weil der Marder immer wieder kam und Generation um Generation verschwand. Zu viele traurige Hendltage.

Mit Penzerei zum Hundebaby

Die Mara war mein erster und bis zum heutigen Tag mein letzter Hund. Sie war ein liebes Hundetier, aber auch ein bissl arm. Der Erwerb der Mara ist auf meinem Mist gewachsen, denn eines Tages bildete ich mir ein, ich müsse jetzt auf der Stelle einen eigenen Hund haben, einen "besten Freund", wie sich das eine Neunjährige eben einbildet. Wir waren auf einer Hundefarm, und dort zog ich angesichts der wirklich süßen Hundebabys eine große Show ab: "Geh bitte! Schau! Die sind so lieb! Darf ich einen haben? Bittebittebitte!" Ich versprach hoch und heilig, auf den Hund aufzupassen, mich um ihn zu kümmern, ihn zu waschen, zu kämmen, zu füttern, mit ihm Gassi zu gehen – ja, in der Früh und am Abend! Bis die Mama und der Papa schließlich meiner Penzerei nachgaben. Wir fuhren mit einem Hundebaby heim.

Die Mara war ein ganz lieber Dackel, aber wie ich schnell feststellte, nicht der Freund, den ich mir vorgestellt hatte, sondern eben doch nur ein ganz gewöhnlicher Hund, der mit seinen kurzen Haxerln nicht sehr schnell und schon gar nicht schneller als ich laufen konnte. Abgesehen davon war die Mara dann irgendwann auch kein Baby mehr und verlor somit ihren Süßigkeitsgrad. Also kam es, wie es kommen musste: Die Mara wurde mir sehr schnell sehr wurscht. Das war ziemlich gemein von mir, und ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen, wenn ich an sie denke.

Weil die Mara nicht die Liebe von mir bekommen hat, die sie verdient gehabt hätte. Sie war dann mit der Pöchlarner Oma sehr gut befreundet, die beiden gingen miteinander spazieren. Sie hatten dasselbe Tempo, die Oma auf der einen, die Mara auf der anderen Seite, ohne Leine. Ich sehe immer mal wieder dieses Bild vor mir, wie die beiden der Abendsonne entgegenwackeln. Sie wackelten wirklich, die Mara, weil sie kurze Beine hatte, und die Oma, weil sie nicht mehr so gut auf den Beinen war. Als die Oma starb, starb kurz darauf auch die Mara.

Die allererste Menschenleiche

Apropos sterben: Meine allererste Menschenleiche war der Onkel F., der Schwager vom Papa, der auch in Pöchlarn lebte und oft zu uns kam. Der Onkel F. brachte immer Süßigkeiten mit und hat sich damit sehr eingeweimperlt, aber ganz unabhängig davon war der Onkel F. auch so wirklich sehr nett. Ich mochte ihn sehr gern und freute mich, wenn er zu uns auf Besuch kam. Nicht nur wegen der Süßigkeiten.

Als ich sechs oder acht Jahre alt war, starb er, und auch er lag – wie später meine Oma – auf der Bahre, dieses Mal in der Kapelle am Friedhof in Pöchlarn. Wir Kinder mussten an ihm vorbeigehen, so wollte es das kirchliche Ritual.

Der Anblick des toten Onkel F. beschäftigte mich, aber nicht so, wie man denken könnte. Nicht seine Leblosigkeit faszinierte mich, sondern etwas anderes, und da ging wieder meine Fantasie mit mir durch.

Der Onkel F. lag da, tot, schön gekleidet, fast in Schale geworfen, Sonntagsanzug und Sonntagskrawatte, seine schwarzen Schuhe frisch geputzt und poliert, die Hände auf dem Bauch zusammengelegt, die Augen geschlossen, ruhig, friedlich, als würde er schlafen. Dieser Anblick war mir komischerweise nicht fremd, und er machte mir keine Angst. Was mich faszinierte, war eine kleine Schleimspur, die ich an seinem Kinn entdeckte. Ein dünner Speichelrest war aus seinem Mund herausgeflossen und dort als weiße Ablagerung eingetrocknet, was einen eigenartigen Gegensatz zu seinem sonst so herausgeputzten Gesamtzustand darstellte. Diese letzte Spur seines Lebenshauchs hatten die Angehörigen wohl übersehen, ich stand still davor und entwickelte meine eigene Assoziation: Ich war sicher, dem Onkel war da eine Schnecke aus dem Mund gekrochen. Aber wo war sie hin? Ich suchte überall und fand sie nicht. Die Schnecke. Aber der Onkel F. war friedlich und gab keine Antwort. Ihm war die Schnecke wurscht. (Ursula Strauss, 22.9.2018)